Donnerstag, 1. Februar 2007

Thomas Hettche: Nox

: Angeblich ist das ein Wendezeit-Roman. Ich kann mich aber des Verdachts nicht erwehren, dass der 9. November 1999 als Tag der Handlung nur gewählt wurde, damit über den zeitgeschichtlichen Rahmen ein Bedeutungskontext hineininterpretiert werden kann, den das Buch in Wahrheit gar nicht hat.

Es muss irgendwo in Deutschland eine Schreibschule geben, die darauf besteht, dass Detailgenauigkeit, Faktenreichtum und Akribie bei der Recherche genügen, um einen guten Roman zu schreiben. Sie genügen nicht! Und es genügt auch nicht, eine Folge drastischer Szenen in einen einzigen Tag zu pressen, um atmosphärische Dichte zu erzeugen. Das hat früher bei Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras" nicht richtig hingehauen, und es funktioniert bei Hettche im neuen Jahrtausend ebenfalls nicht.

Also gut: Die Mauer ist offen, man kann sich auf den Rücksitz eines Trabi setzen, dort koitieren und gleichzeitig über die Grenze fahren. Man kann sich Zigaretten auf der Haut ausdrücken lassen und dabei an die Heilung von Wunden denken, weil die Grenze ja auch so was wie eine Wunde gewesen ist. Na und? Da wird dick aufgetragen, und weil eben doch kein rechter Tiefsinn aufkommen möchte, immer dicker und dicker. Es klaffen die Wunden, es eskalieren die Exzesse. Das Ganze ist weder glaubwürdig, noch überzeugend.

Natürlich hat sich da wieder einer extrem viel Mühe gemacht, hat seine ganze Sprachgewalt bemüht, hat genau recherchiert, an den Sätzen gefeilt. Er kann schreiben, der Hettche, und er kann denken, nur kriegt er leider beides nicht zusammen. Über der Eleganz seiner Sätze hat er die einfachsten Fragen vergessen: Warum das alles? Warum die Maueröffnung mit einer klaffenden Wunde vergleichen, und nicht mit einer heilenden? Das Gegenteil wäre doch näher gelegen, oder? Bestimmt hat Hettche darauf eine kluge Antwort, und vielleicht steht sie sogar im Text und ich habe sie nicht gefunden. Sie würde mich nicht überzeugen, kännte ich sie, denn das Buch als solches überzeugt mich einfach nicht.

Seit Joyce' Ulysses gibt es immer wieder Autoren, die sich der Herausforderung stellen, die darin besteht, die Handlung eines Romans auf einen einzigen Tag zu konzentrieren. Der schon erwähnte Koeppen hat das vor Jahrzehnten getan, und es ist intellektualisierendes Epigonentum dabei herausgekommen. Zeitschmerz in feinstem Romandeutsch. Genau daran ist auch Hettche gescheitert: Am seinem klugen Kopf, an seinem literarischen Feinsinn, mit dem er seine wilden SM-Szenen nicht adelt, sondern ihnen das Leben entzieht. Sie sind nämlich nicht lebendig, sondern papieren. Das bisschen Glaubwürdigkeit ist im Bedeutungswust und im Faktenwahn verloren gegangen.

Ich wünsche mir wirklich, Hettche hätte ein wenig schlechter recherchiert und seine Sätze etwas gröber gelassen. Dann hätte er vielleicht mal Zeit und Muße gehabt, einen Schritt zurückzutreten und seinen Text platt und glatt gegen die Wirklichkeit zu halten. Er wäre dann unter Umständen sogar auf die Idee gekommen, die Lupe mal wegzulegen und mit seinen gesunden Augen hinzusehen. Dann hätte er sich gesagt: "Schreib doch bitte entweder eine SM-Geschichte, oder einen Wenderoman. Aber nicht beides gleichzeitig, das kriegst du nämlich nicht zusammen. Du nicht!"