Mittwoch, 9. Mai 2007

Uwe Johnsons Jahrestage als Blog

Ich lese zur Zeit Jahrestage von Uwe Johnson. Untertitel: Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. 365 Einträge vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968. Es ist kein Tagebuch, da das Alltagsleben von Gesine Cresspahl nur das Trägermedium für ein zeitgeschichtliches Panorama liefert.

Es wird die Familiengeschichte der Cresspahls erzählt, von Gesines Geburt an, ihre Kindheit im dritten Jahr, der Zusammenbruch, der Neuanfang im Osten unter kommunistischer Herrschaft. Der Vietnamkrieg spiegelt sich wieder in Zitaten und Verweisen auf die New York Times. Der Prager Frühling spielt eine entscheidende Rolle, und es ist bestimmt kein Zufall, dass der letzte Eintrag vom 20. August stammt, also ein Tag bevor die Truppen des Warschauer Pakts in Prag einmarschierten.

Gesines Alltag im New York von 1968/1969 bildet die Rahmenhandlung und bringt neben Nationalsozialismus und Kommunismus die dritte wichtige Staatsform des zwanzigsten Jahrhunderts in diesen Roman ein.

Der Roman hat mehr als 1700 Seiten und spannt einen gewaltigen Bogen über die Gesellschaften der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Strukturgebend ist die chronologische, tagebuchähnliche Form, bei der jeder Eintrag sich auf einen Tag bezieht, ohne den Tag als solchen ausschließlich zum Gegenstand zu haben.

Indem Johnson sich dieses strenge Korsett anlegt, kann er mit Rückblicken, Zeitungsausschnitten und Exkursen aller Art arbeiten, ohne dass der Roman die Form verliert und zu einem zusammenhanglosen Konglomerat wird. Vielleicht ist das eine der großen Stärken dieses Buches: Es fällt nicht auseinander, sondern schafft tatsächlich die Klammer um mehrere Jahrzehnte der europäischen und amerikanischen Geschichte.

Fiktives wird so in den realen zeitgeschichtlichen Hintergrund integriert, dass es kaum noch zu unterscheiden ist. Die kleine mecklenburgische Stadt Jerichow dient als Modell, an dem in Form vieler Einzelschicksale der Weg Deutschlands ins Dritte Reich und wieder heraus geschildert wird. Die Stadt ist fiktiv. Ihr Werden und ihr Wandel im Laufe der Zeit wird umfassend beschrieben, bis hinein in die Querelen der Lokalpolitik, und bis zu städtebaulichen Details: Man nimmt dem Autor unwillkürlich ab, er habe eine die Geschichte einer realen Kleinstadt recherchiert.

Tatsächlich hat Johnson hier eine kleine exemplarische Welt erschaffen, um seine persönliche Analyse des dritten Reichs durchführen zu können.

Da ich mich zur Zeit mit Blogs beschäftige, finde ich die Struktur des Romans besonders interessant. Heutzutäge läge es nahe, den Roman im Internet in der Form eines Blogs zu veröffentlichen. Man könnte das Buch dann auf eine völlige neue Art und Weise lesen. Es treten im Verlaufe der 1700 Seiten viele Personen auf, verschwinden wieder, um erst einige hundert Seiten später wieder erwähnt zu werden. Wie nützlich wäre da die Suchfunktion eines Blogs! Um wie viele einfacher wäre es, Bezüge deutlich zu machen, Zusammengehörendes zu gruppieren: Man könnte Tags verwenden, mit deren Hilfe in Blogs thematisch zusammegehörige Einträge gekennzeichnet werden können.

Jahrestage als ein riesiger Blog! Für mich eine faszinierende Vorstellung!