
Autobiographie ohne Ereignisse, ein Roman ohne Handlung.
Nicht einmal Anekdoten lockern die Reflexionen des Ich-Erzählers Bernardo Soares auf. Von ein paar beiläufigen biografischen Randbemerkungen abgesehen, erfahren wir im ganzen Buch über diese Figur nicht viel mehr, als dass sie als Hilfsbuchhalter in einem Textilgeschäft arbeitet.
Soares ist eine fiktiven Ersatzpersönlichkeit Pessoas, eines seiner sogenannten
Heteronyme. Weil nun diese Figur die ganze Zeit über sich selbst reflektiert, fällt es besonders schwer, den Autor Pessoa nicht mit dem Heteronym gleichzusetzen, das aus dem Buch der Unruhe spricht. Pessoa selbst hat jedoch strikt getrennt und bestimmte Gemütsverfassungen und Teilaspekte seiner eigenen Persönlichkeit bewusst unterschiedlichen Heteronymen zugeordnet.
Das Heteronym Bernardo Soares steht für eine radikale Verweigerung von Leben und Realität. Soares hält das Träumen für die einzige ihm gemäße Beschäftigung, den Traum für den alleinig erstrebenswerten Geisteszustand. Deshalb müsste dieses Werk eigenlich
Buch des Träumensheißen, denn das Träumen ist Thema, nicht so sehr die Unruhe. Aber nicht einmal die Träume werden in diesem Buch konkret, auch sie sind reduziert auf einzelne Bilder, die wiederum in Überlegungen zum Wahrnehmungs- und Realitätsbegriff eingebettet werden. Was genau dieses Soares träumt, bleibt dem Leser genau so sehr verborgen wie seine äußeres Leben.
Für Soares ist der Traum das bessere Leben, und deshalb versucht er, sich so oft wie möglich in einen traumähnlichen oder traumnahen Zustand zu begeben. Dementsprechend hat Pessoa laut eigener Aussage Soares die Feder ergreifen lassen, wenn er müde und schläfrig war.
Soares glaubt sich den meisten anderen Menschen überlegen auf Grund seiner Sensibilität, seiner übersteigerten Wahrnehmungs- und Vorstellungskraft. Er sieht sich auf einer höheren Ebene, obwohl er unglücklich ist. Seine Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren, macht ihn zu etwas Besonderem, hebt ihn ab von der dumpfen Triebhaftigkeit der
normalenMenschen. Jegliches materielle Ziel, auch die Liebe und die Sinnlichkeit, verachtet er. Es ist sinnlos, danach zu streben, denn nur im Traum ist Reinheit, Unbeflecktheit und Vollkommenheit möglich. Zur geschlechtlichen Liebe ist seiner besonderen Persönlichkeit wegen weder fähig noch willens.
Die Körperfeindliche, das Spirituelle und Metaphysische wirkt über lange Strecken ermüdend und repetitiv. Das Buch ist zu dick. Es enthält zu viele Wiederholungen. Das ist weniger Pessoa anzulasten, denn es sind Jahrzehnte zwischen seinem Tod und der Erstveröffentlichung vergangen. Das Manuskript besteht aus Hunderten loser Blätter mit schwer oder gar nicht zu entziffernder Handschrift. Hier standen die Herausgeber vor einer enormen editorischen Aufgabe, die sie leider auf eine fragwürdige Weise gelöst haben. Während die erste deutsche Ausgabe noch um die Hälfte kürzer war, hat man in der aktuellen Version die Strategie verfolgt, alle nur irgendwie dem Buch der Unruhe zuzuordenden Texte aufzunehmen. An vielen Stellen mussten unleserliche Worte durch Punkte ersetzt werden. Manches wirkt dadurch fragmentarisch bis hin zur Unverständlichkeit. Für eine historisch-kritische Ausgabe mag dies angemessen sein, nicht aber für ein Buch, das sein Publikum über die Fachzirkel hinaus finden möchte. Es ist bedauerlich, dass der Respekt vor einem großen Autor dazu geführt hat, die Schere völlig aus der Hand zu legen. Ich glaube nicht, dass dies im Sinne des Autors ist und bedauere es, nicht die erste deutsche Ausgabe gelesen zu haben, die noch den Mut zum Kürzen hatte.
Das Buch ist großartig in seiner Sprach- und Bildgewalt, und seiner gedanklichen Tiefe. Hätten die Herausgeber den Mut gehabt an den richtigen Stellen etwas wegzulassen, es könnte eine noch viel größere Wirkung erzielen. Fast ärgerlich stimmt es da, wenn man auf einer der letzten Seiten der Ausgabe eine Äußerung Pessoas bezüglich einer künftigen Veröffentlichung zu lesen bekommt:
Die Gestaltung des Buches sollte auf einer möglichst strengen Auswahl der überaus unterschiedlichen Textfragmente beruhen, ...Genau das haben die Herausgeber leider unterlassen.
In seiner jetzigen Form bedarf das Buch eines ausdauernden, ja verzeihenden Lesers. Er muss dem Buch seine Längen vergeben, genau wie er Bernardo Soares seine mönchshaftes Einsiedlertum und seine Menschenverachtung vergeben muss. Wenn er dazu bereit ist, findet er sich einem Einzelkämpfer und Rebellen gegenüber, den kennenzulernen unbedingt lohnenswert ist. In einer Welt, die so sehr wie die unsere an materiellem Denken orientiert ist, ist ein Bernardo Soares Revolutionär. Er verachtet alles Weltliche, verwehrt sich aber gleichzeitig jeglicher Religion und Weltanschauung. Er grenzt sein Ich so sehr gegen alles andere ab, dass es schließlich ganz verschwindet. Menschliche Individualität ist hier zu Ende gedacht worden und hat eine Ausdrucksform gefunden, die beunruhigend frei, beunruhigend einzigartig ist.
Vielleicht ist es deshalb eine gute Idee, beim nächsten Einkaufstrip mal an das Buch der Unruhe zu denken. Das Buch entzieht sich jedem Kommerz. In der sperrigen Ausgabe, in der es jetzt vorliegt, tut es das sogar noch mehr.