Samstag, 31. Januar 2009

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser

Karl Philipp Moritz: Anton ReiserDer Anton Reiser gilt als der erste psychologische Roman. Das Buch ist sehr autobiographisch und deshalb so etwas wie eine Selbstanalyse des Autors. Als solche ist sie äußerst beachtlich, bis heute hochaktuell und äußerst lesenswert. Auch den modernen Leser macht das Schicksal Anton Reisers unmittelbar betroffen. Die Psyche des Protagonisten, seine innere Zerrissenheit wird so differenziert und eindringlich geschildert, dass wir darin viele Muster entdecken können, die auch heute noch in der Entwicklungspsychologie wichtig sind.

Es geht um einen jungen Menschen, Anton Reiser, der ohne Liebe und ohne Wertschätzung aufwachsen muss. Seine Eltern sind Quietisten, eine heutzutage unbedeutende Frömmigkeitsrichtung aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Sie ist am ehesten noch mit dem Pietismus vergleichbar. Im Quietismus sind Selbstkritik und Selbstverzicht die höchsten Werte. Dem Kind wird dieser radikale Glaube aufgezwängt, es wird ihm durch ständige Wiederholung die Doktrin eingepflanzt, dass das eigene Selbst keinen Wert hat.

Dennoch lässt Anton schon früh große Begabungen erkennen. Er interessiert sich für Philosophie und Literatur, lernt schnell und gut die alten Sprachen, dichtet, und hätte offenbar eine vielversprechende Zukunft vor sich, wenn er gefördert werden würde. Erst durch die offensichtlichen Begabungen Antons wird sein Schicksal tragisch. Der Roman protokolliert nun genau, wie der Mangel an Eigenliebe verhindert, dass Anton seiner Bestimmung folgen und zu sich selbst finden kann. Es wird zwar zugelassen, dass er studiert, allerdings nur, weil sein Talent von Lehrern erkannt wird. Von seinen Eltern erfährt er keine Unterstützung, auch keine finanzielle. Das ist zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Normal ist vielmehr, dass Studenten bettelarm sind und als Kostgänger darauf angewiesen sind, dass sie bei mehr oder minder menschenfreundlichen Gönnern endgeltlos essen oder schlafen dürfen.

Zunächst scheint es, als sei Anton ein Opfer der Zeitumstände, der Roman eine soziale Anklageschrift à la Oliver Twist. Dann wird klar, dass Anton nicht nur gegen die sozialen Probleme seiner Zeit zu kämpfen hat, sondern auch gegen sich selbst. Zu groß ist die Sehnsucht nach Anerkennung, die ihm in der Kindheit verwehrt worden ist. Sie sorgt dafür, dass er immer wieder vom Weg abkommt. Wenn er Zuspruch erfährt, wenn er Gönner hat, macht ihn das euphorisch, aber mit Ablehnung kann er nicht umgehen.

Es gelingt ihm nicht, sein Studium durchzuziehen, wie man heute sagen würde. Die unstillbare Sucht nach Anerkennung kondensiert sich in dem Wunsch, Schauspieler zu werden. Zum Schauspieler ist er nicht geboren, es fehlen ihm sowohl das Äußere als auch das Talent. Dennoch glaubt er von einem bestimmten Punkt an, nur als Schauspieler glücklich sein zu können. Er bricht sein Studium ab, begibt sich mehrmals ohne ausreichend Geld auf planlose Wanderschaften, die ihn physisch und psychisch schwer belasten. Er reist einer Schauspielertruppe nach, um sich ihr anzuschließen, nimmt dafür vielen Entbehrungen in Kauf, nur um am Ende erfahren zu müssen, dass sich die Truppe aufgelöst hat. Das aber ist fast ein Glück, denn in einer mittelmäßigen Theatertruppe wäre es um sein Talent endgültig geschehen gewesen.

Der Roman bleibt unvollendet und wirkt doch rund, denn am Ende ist klar, was Reiser tun müsste und warum er es nicht kann. Der Wunsch, Schauspieler zu werden ist Ausdruck einer falschen Identität, die sich in ihm herangebildet hat in den Jahren emotionaler Vernachlässigung. Mit der Schauspielerei hält er an dem einen Wunsch fest, der ihm in seiner Jugend hatte ausgetrieben werden sollen, dem Wunsch, als ein Mensch mit eigenen Gefühlen wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden. Tragisch ist diese Lebensgeschichte dadurch, dass sich aus einer berechtigten Sehnsucht heraus ein Irrtum entwickelt, ein falsches Bild von sich selbst und der Realität. All seine Klugheit und seine Fähigkeit zur Selbstanalyse versetzen ihn nicht in die Lage, seinen Irrtum zu durchschauen.

Die Existenz dieses Romans beweist, dass der Autor Karl Philipp Moritz im Gegensatz zu seiner Romanfigur irgendwann verstanden hat. Erst dadurch war er in der Lage, diesen Roman zu schreiben, den ersten, der die Bedeutung der menschlichen Psyche bei der Sozialisierung des Individuums thematisiert.

Staatsbankrott

Die Zeitungen haben ein neues, naheliegendes Thema entdeckt, den Staatsbankrott. In der momentanen Situation liegt es nahe, die Frage zu stellen: Wie verschuldet sich der Staat? Wie lange kann der Staat Schulden machen, bevor er selbst bankrott geht?

Der Spiegel von dieser Woche versucht, mit seiner Titelstory darauf eine Antwort zu geben: Der Staat macht Schulden, indem er verzinsliche Wertpapiere an seine eigenen Bürger und an andere Länder verkauft. Ein Beispiel sind die Bundesschatzbriefe: In die kann jeder investieren und hat dabei eine Geldanlage, die angeblich sehr sicher ist.

Die Schuldenlast des Staates steigt ständig, und damit auch die Zinsen, die zu tilgen sind. Die Zinstilgung ist offenbar der zweitgrößte Ausgabenposten in Deutschland. Wenn der Staat seine Zinsen nicht mehr zurück zahlen kann, dann geht er pleite. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, mit welchen Unruhen und politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen so etwas verbunden wäre.

Wenn man dem Spiegel glauben darf, zahlt der Staat seine Schulden so gut wie nie zurück. Wenn sie fällig werden, dann erneuert er sie einfach. Deshalb wächst die Zinsbelastung meistens, bleibt im besten Fall gleich. Mich erinnert das verdächtig an das vielzitierte Schneeballsystem. Spätestens dann, wenn mit neuen Schulden die alten Zinsen beglichen werden, dann würde es sich ohne Zweifel um ein Schneeballsystem handeln. Schneeballsysteme sind illegal, weil sie nicht stabil funktionieren können und eine Form von Betrug darstellen. Wenn Einzelpersonen so etwas tun, dann werden sie bestraft, kommen vielleicht sogar ins Gefängnis. Ist es möglich, dass der Staat etwas tut, was dem Wesen nach verbrecherisch ist?

Täuscht der Staat seine Bürger? Basiert sein Finanzgebahren auf einem Prinzip, von dem man mit etwas gesundem Menschenverstand sofort erkennen kann, dass es auf lange Sicht nicht funktionieren kann? Wenn ja, wie lange dauert es, bis ein Wirtschaftssystem kollabiert, welches momentan alle Staaten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu stabilisieren versuchen?