Donnerstag, 19. März 2009

Edgar Allan Poe: Die denkwürdigen Erlebnisse des Artur Gordon Pym

Edgar Allen Poe: Die denkwürdigen Erlebnisse des Artur Gordon Pym Wer diesen Roman ernst nimmt, hat schon verloren, denn er wird vom Autor getäuscht, von der ersten bis zur letzten Seite.

Poe hat sich in der Romanform nicht wirklich wohl gefühlt, das verrät schon die interessante Entstehungsgeschichte des Buchs: Es ist geschrieben worden, um damit Geld zu verdienen. Die Kurzgeschichten, die er für gewöhnlich schrieb, brachten nicht genügend ein. Was geschieht nun, wenn ein Autor wie Poe den Versuch unternimmt, einen kommerziell erfolgreichen Roman zu schreiben?

Der Ich-Erzähler schifft sich aus Abenteuerlust als blinder Passagier ein und muss sich tagelang unter Deck in drangvoller Enge und bei Dunkelheit verstecken. Man begegnet einem für Poe typischen Motiv, der Angst vor dem Lebendigbegrabensein. Es folgen eine Meuterei, schweres Gemetzel, Seenot und glückliche Rettung. Dann ein merkwürdiger Bruch in der Erzählung: Plötzlich liest man naturkundliche Beschreibungen, nautische Fachsimpeleien, Seefahrtshistorie. Eigentlich hat der Autor seine Geschichte zu Ende erzählt, aber er schreibt trotzdem weiter. Und weil ihm grade nichts mehr einfällt, kopiert er ganze Textstrecken aus anderen Büchern. Dabei kann er noch nicht einmal auf eine besonders große Referenzbibliothek zurückgreifen. Poe ist ein armer Mann, und die paar Bücher über Seefahrt, die ihm zur Verfügung stehen, müssen reichen. Sie werden bedenkenlos geplündert. Die Lustlosigkeit ist so offensichtlich, dass man davon ausgehen muss: Sie wollte bemerkt werden.

Schließlich, im dritten Teil des Romans, nähert sich die Reise mehr und mehr dem Südpol an. Ein unbekanntes Volk taucht auf: schwarze Menschen mit schwarzen Zähnen, die in Erdlöchern hausen. Sie zeigen sich erst freundlich, erweisen sich dann aber als grausame Meuchler. Den Ich-Erzähler verschütten sie unter einer Gerölllawine. Die Art, wie er dort eingeschlossen ist, erinnert erneut an die Situation des Lebendigbegrabenseins. Es folgen merkwürdig ausführliche Landschaftsschilderungen, sogar mit Skizzen illustriert, die an Buchstaben einer unbekannten Sprache erinnern.

Vögel, die einen geheimnisvollen Laut von sich geben, den auch die Eingeborenen in ihrer Sprache verwenden, merkwürdige Zeichen, die in die Landschaft geschrieben sind, all das ist Humbug, es ist ein Witz.

Dann Befreiung, Weiterfahrt in Richtung Südpol, merkwürdige Lichterscheinungen am Himmel, Ascheregen und gegen Ende eine übergroße Gestalt, die sich aus dem Meer erhebt.

Zunächst möchte man annehmen, hier würde eine besonders rätselhafte und verworrene Geschichte geschildert. Durch die Deutung der Hinweise und Indizien, müsste es möglich sein, hinter den Sinn zu kommen. Aber einen Sinn gibt es nicht. Der Roman ist ein schlechter Witz, der Witz eines Schriftstellers, der sich über seine unterhaltungsuchenden Leser lustig macht. Das, und nur das ist die Stärke des Buchs. Im Nachwort heißt es, die letzten drei Kapitel der Erzählung seien verloren gegangen. Es werden Gründe genannt. Aber die Vermutung, Poe hätte eine Fortsetzung geplant, ist falsch. Er hat vielmehr die Schraube so lange angedreht, bis nichts mehr geht. Seine Geschichte lässt sich überhaupt nicht sinnvoll zu Ende erzählen. Er hat sie absichtlich gegen die Wand gefahren.

Wenn dieses Buch eine Botschaft hat, dann Provokation: Ihr wollt einen spannenden Roman lesen? Hier habt ihr ihn! Aber der Leser bekommt nicht das, was ihm versprochen wird. Er erhält eher eine verkappte Satire. Man könnte auch von absichtsvollem Scheitern reden, oder von einem literarischen Lausbubenstreich.

Vermutlich gibt es viele Interpreten, die sich ausführlich mit der in den letzten Kapitel auftauchenden Symbolik beschäftigt und Deutungsversuche angestellt haben. Diese Leute, muss man leider sagen, haben sich von Edgar Allan Poe veralbern lassen.

Dienstag, 17. März 2009

Winnenden: Die Waffe

Es gibt viele offensichtliche Parallelen zwischen Erfurt und Winnenden. Der Schützenverein zum Beispiel. Was mich bei diesen Vereinen verwundert, ist die Tatsache, dass dort offenbar nicht nur mit speziellen Sportwaffen geschossen wird. Ich bin in meiner Naivität bisher davon ausgegangen, dass Sportschützen Waffen benutzen, die für ihren Sport speziell ausgelegt sind. Aber anscheinend werden dort Waffen eingesetzt, die auch von Polizisten oder Soldaten eingesetzt werden. Ist das richtig und muss das so sein?

Darf man bei solchen Waffen nach ihrem Verwendungszweck fragen? Wenn sie nicht speziell für den Schützensport entwickelt worden sind, wozu dann? Genügt es wirklich, von einer Waffe zu wissen, dass sie den Zweck hat Menschen zu töten? Wenn diese Waffe keinen legitimen, offiziellen Verwendungszweck hat, für den sie hergestellt worden ist, was hat sie dann in Deutschland zu suchen? Was hat sie in Winnenden zu suchen?

Offensichtlich passieren solche Amokläufe genau dann, wenn ein dazu prädestinierter labiler Jugendlicher an solche Waffen kommt. Die Waffe muss verfügbar sein. Sonst passiert gar nichts. Da frage ich mich natürlich, wie viele andere potenzielle Amokläufer nur deshalb nicht zur Tat schreiten, weil sie nicht an eine Waffe kommen.

Montag, 16. März 2009

Winnenden: Igor W. hat Glück gehabt

Igor W. ist der Mann, den Tim K. als Geisel genommen und gezwungen hat, ihn in seinem Auto nach Wendlingen zu fahren. Deshalb ist er vermutlich der Einzige, der mit dem Amokläufer während seiner Tat gesprochen hat. Alle rätseln über das Motiv. Vielleicht könnte Igor W. etwas dazu sagen. Er hat überlebt, hat dabei wahrscheinlich noch Glück gehabt, ist in einem günstigen Moment aus dem Wagen gesprungen. Da der Täter wahllos Leute erschoss, gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass er Igor W. verschont hätte.

Nun ist Igor W. in einer merkwürdigen Lage. Einerseits muss er bestimmt einen schweren Schock verarbeiten, andererseits ist heißbegehrt bei den Medienleuten. Er muss sich schnell entscheiden, wie er sich gegenüber den Journalisten verhält. Er könnte sich ganz zurückziehen und sich von seinem Schrecken erholen. Es genügt ja, wenn er der Polizei erzählt, was er weiß. Er könnte sich durchreichen lassen von einer Talkshow zur nächsten, von einem Interview zum anderen.

Er könnte aber auch auf den hören, der ihm sagt: Machen Sie das Beste aus ihrer Situation. Sie können sich nicht verstecken vor der Öffentlichkeit. Aber sie brauchen sich auch nicht zerfleischen zu lassen. Wählen Sie die goldene Mitte, unterzeichnen Sie einen Exklusivvertrag. Damit ist allen gedient: Die Öffentlichkeit wird informiert, wir schützen Sie vor der neugierigen Konkurrenz und Sie verdienen sogar noch ein bisschen dabei.

Und genau für diese Möglichkeit hat sich Igor W. entschieden: Er hat einen Exklusivvertrag unterschrieben. Wer mag ihm das verdenken? Vielleicht ist jetzt eine neues Auto drin. Mit dem Alten fährt er womöglich nicht mehr so gerne. Womöglich kann er ein paar alte Schulden zurückzahlen.

Ich mache Igor W. keine Vorwürfe. Vielleicht hätte ich mich genau so verhalten. Vielleicht auch nicht. Das kann ich nicht sagen, weil ich mich nie in einer vergleichbaren Situation befunden haben. Ich hätte aber bestimmt ein ungutes Gefühl, an seiner Stelle.

Es ist keine Woche vergangen, und schon lassen sich mit sechzehn toten Menschen gute Geschäfte machen. In den Zeitungen steht schon etwas von Trauerarbeit, und vom allmählichen Zurückfinden zur Normalität. So schnell geht das also? Anfang der Woche hast du mit ansehen müssen, wie deiner Mitschülerin ein Loch in den Kopf geschossen wurde. Sie hatte den Schreibstift noch in der Hand, da war sie schon tot. Heute darfst du schon wieder in die Schule gehen und mit der Trauerarbeit anfangen. Es fragen schon die ersten, wie lange es wohl dauert, bis man drüber weg ist. Warum so ungeduldig, frage ich zurück?

Ich war nicht dabei in Winnenden. Ich habe auch noch nie etwas so Schlimmes erlebt. Ich hatte schon böse Erfahrungen, harmlos im Vergleich zu Winnenden. Selbst bei dem, was ich erlebt habe, konnte ich nach einer Woche auch nicht ansatzweise erfassen, was es bedeutete, und bin bis heute nicht drüber weg . Die in Winnenden, die sind angeblich schon mitten in der Trauerarbeit. Ich kann das nicht glauben.

Hoffentlich findet Igor W. die richtigen Worte, wenn er denn endlich im Studio sitzt und gefragt wird, wie es gewesen ist. Die Einschaltquoten sind ihm jedenfalls sicher. Wir werden ihm zuhören und werden es ganz genau wissen wollen. Igor W. ist dem Tod von der Schippe gesprungen. Wir werden mit ihm fühlen, und dieses Mitgefühl wird angenehm sein. Dann werden wir in unsere warmen Betten gehen.

Sonntag, 15. März 2009

Winnenden: Warum hat er es getan?

Warum er es getan hat, ist eine der ersten Fragen gewesen, die gestellt worden sind. Viele fühlen sich berufen, dazu Mutmaßungen anzustellen.

Dabei ist die Frage dazu prädestiniert, niemals beantwortet zu werden. Könnte man ihn noch fragen, und er würde eine Antwort geben, dann käme die nächste Frage: Warum ist er so geworden?

Diese Frage scheint mir wichtiger, denn sie deutet wieder zurück auf uns selbst. Es gibt zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass es monströse Taten immer geben wird, man sie niemals ganz verhindern wird. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere wäre, man fragt sich, in welcher Welt so einer aufgewachsen ist. Warum niemand zu ihm vorgedrungen ist, warum niemand sehen konnte, wie Tod und Zerstörung heranwachsen. Die erste Möglichkeit bringt uns nicht weiter, selbst wenn sie richtig sein sollte. Die zweite lässt sich nicht von der Hand weißen. Es ist die einzig wichtige Frage, die Frage nach uns selbst, denn der Täter ist tot. Nach dem brauchen wir nicht mehr unbedingt zu fragen. Nach uns sollten wir fragen.

Tim K. war einer wie viele. Das wollte er nicht mehr sein. - Es nicht mehr zu sein, hat er geschafft, indem er fünfzehn Menschen umgebracht hat. Die anderen aber, die sich von der Masse genau so wenig unterscheiden, wie es Tim K. getan hat, die sollten wir jetzt anschauen. Die sind nämlich noch am leben. Man kann sie retten. Vergessene, Schüchterne, die sich leicht an die Wand drücken lassen, die man nicht beachtet. Jeder von uns kennt so einen. Man braucht nicht lange zu suchen, wenn man die Augen offen hält. Es gibt so viele, so unendlich viele: Jungs, die heranwachsen in scheinbar intakten Familien, aber niemanden haben, dem sie vertrauen wollen. Den Eltern sind sie fremd, die Freundschaften bleiben an der Oberfläche. Für sie ist alles Oberfläche, nichts hat Tiefe. Darum sehen sie in ihrem Leben keinen Sinn. Sie hatten noch nie einen Menschen, mit dem sie richtig ehrlich und aufrichtig reden konnten. Entsetzlich einsame Menschen, die in einer einsamen Welt groß werden, ein Welt die harmlos scheinen möchte und harmlose redet den ganzen Tag. Könnte es sein, dass eine solche Welt ein guter Nährboden ist, für Amokläufer?

Wieder einmal wird über Gesetze geredet, die dafür sorgen, dass Waffen noch besser weggeschlossen werden müssen. Das ist lobenswert. Aber was wollen wir tun mit all den potenziellen Amokläufern, die keine Waffe in die Hand bekommen? Wir werden sie nicht einmal erkennen! Es wird sie trotzdem geben. Sie werden mitten unter uns sein. Sie sind bereits mitten unter uns. Redet mit denen, die offenbar niemanden haben, mit dem sie reden können. Redet jeden Tag mit denen! Und wenn sie euch anschweigen, redet weiter mit ihnen. Redet mit ihnen, bevor es wieder geschieht!

Winnenden: Das Drama hat keine Dramatik

Es gibt ein Handy-Video, auf dem zu sehen ist, wie der Amokläufer von Winnenden wenige Sekunden vor seinem Tod unschlüssig auf dem Parkplatz hin- und hergeht. Er muss wissen, dass er beobachtet wird. Trotzdem sucht er keine Deckung, hat offenbar keine Eile. Er steht da wie auf einem Präsentierteller. Wenn er niemanden sieht, auf den er schießen kann, dann scheint er ziellos zu sein. Er lädt seine Waffe nach. Es ist, als tue er es nur, weil ihm gerade nichts Besseres einfällt.

Es sind Stimmen zu hören. Einer sagt: Du wirst sehen, der erschießt sich selbst. Wenig später ist ein Schuss zu hören, und der Amokläufer geht zu Boden. Auch das geht merkwürdig leise vonstatten, kein Schrei, keine hektischen Bewegungen. Es wirkt, als hätte ihn plötzlich die Kraft in den Beinen verlassen.

Man sieht nur noch einen verschwommenen Fleck. Wahrscheinlich ist das Video an dieser Stelle geschnitten. Wenig später hört man einen sagen, der Amokläufer habe sich selbst erschossen, wahrscheinlich der Besitzer des Handys.

Auf diesem Video brüllt niemand. Niemand hat Angst in der Stimme. Keiner rennt, keiner flüchtet, wirft sich in Deckung. Niemand ist wütend. Niemand brüllt Macht ihn fertig! , oder etwas Ähnliches.

Ganz anders ist das, als in all den Ballerspielen, die angeblich den Anreiz für Amoktäter bieten. Die Wut, der Blutrausch, nichts davon ist zu sehen. Die Bilder, letztlich sind sie völlig wertlos. Sie erzählen nichts von dem, was passiert ist, nur, wie es ausgesehen hat.

Die Menschen sterben leise, hat es den Anschein. Sie tun das auch dann, wenn sie von einer Kugel getroffen werden. Ganz leise schleicht sich das Grauen in die Kleinstadt Winnenden. Hier bin ich geboren und aufgewachsen. Hier ist alles immer ganz normal, ganz kleinstädtisch schwäbisch gewesen. Das wird auch so bleiben, glaube ich. Aber die, die hier leben, wissen jetzt: Da gibt es etwas, das sie nicht sehen können, auch auf keinem Video. Aber es ist immer da: Das Böse!