Montag, 16. März 2009

Winnenden: Igor W. hat Glück gehabt

Igor W. ist der Mann, den Tim K. als Geisel genommen und gezwungen hat, ihn in seinem Auto nach Wendlingen zu fahren. Deshalb ist er vermutlich der Einzige, der mit dem Amokläufer während seiner Tat gesprochen hat. Alle rätseln über das Motiv. Vielleicht könnte Igor W. etwas dazu sagen. Er hat überlebt, hat dabei wahrscheinlich noch Glück gehabt, ist in einem günstigen Moment aus dem Wagen gesprungen. Da der Täter wahllos Leute erschoss, gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass er Igor W. verschont hätte.

Nun ist Igor W. in einer merkwürdigen Lage. Einerseits muss er bestimmt einen schweren Schock verarbeiten, andererseits ist heißbegehrt bei den Medienleuten. Er muss sich schnell entscheiden, wie er sich gegenüber den Journalisten verhält. Er könnte sich ganz zurückziehen und sich von seinem Schrecken erholen. Es genügt ja, wenn er der Polizei erzählt, was er weiß. Er könnte sich durchreichen lassen von einer Talkshow zur nächsten, von einem Interview zum anderen.

Er könnte aber auch auf den hören, der ihm sagt: Machen Sie das Beste aus ihrer Situation. Sie können sich nicht verstecken vor der Öffentlichkeit. Aber sie brauchen sich auch nicht zerfleischen zu lassen. Wählen Sie die goldene Mitte, unterzeichnen Sie einen Exklusivvertrag. Damit ist allen gedient: Die Öffentlichkeit wird informiert, wir schützen Sie vor der neugierigen Konkurrenz und Sie verdienen sogar noch ein bisschen dabei.

Und genau für diese Möglichkeit hat sich Igor W. entschieden: Er hat einen Exklusivvertrag unterschrieben. Wer mag ihm das verdenken? Vielleicht ist jetzt eine neues Auto drin. Mit dem Alten fährt er womöglich nicht mehr so gerne. Womöglich kann er ein paar alte Schulden zurückzahlen.

Ich mache Igor W. keine Vorwürfe. Vielleicht hätte ich mich genau so verhalten. Vielleicht auch nicht. Das kann ich nicht sagen, weil ich mich nie in einer vergleichbaren Situation befunden haben. Ich hätte aber bestimmt ein ungutes Gefühl, an seiner Stelle.

Es ist keine Woche vergangen, und schon lassen sich mit sechzehn toten Menschen gute Geschäfte machen. In den Zeitungen steht schon etwas von Trauerarbeit, und vom allmählichen Zurückfinden zur Normalität. So schnell geht das also? Anfang der Woche hast du mit ansehen müssen, wie deiner Mitschülerin ein Loch in den Kopf geschossen wurde. Sie hatte den Schreibstift noch in der Hand, da war sie schon tot. Heute darfst du schon wieder in die Schule gehen und mit der Trauerarbeit anfangen. Es fragen schon die ersten, wie lange es wohl dauert, bis man drüber weg ist. Warum so ungeduldig, frage ich zurück?

Ich war nicht dabei in Winnenden. Ich habe auch noch nie etwas so Schlimmes erlebt. Ich hatte schon böse Erfahrungen, harmlos im Vergleich zu Winnenden. Selbst bei dem, was ich erlebt habe, konnte ich nach einer Woche auch nicht ansatzweise erfassen, was es bedeutete, und bin bis heute nicht drüber weg . Die in Winnenden, die sind angeblich schon mitten in der Trauerarbeit. Ich kann das nicht glauben.

Hoffentlich findet Igor W. die richtigen Worte, wenn er denn endlich im Studio sitzt und gefragt wird, wie es gewesen ist. Die Einschaltquoten sind ihm jedenfalls sicher. Wir werden ihm zuhören und werden es ganz genau wissen wollen. Igor W. ist dem Tod von der Schippe gesprungen. Wir werden mit ihm fühlen, und dieses Mitgefühl wird angenehm sein. Dann werden wir in unsere warmen Betten gehen.

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