Donnerstag, 27. September 2007

Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe

Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe Dies ist eines jener Bücher, die viel mehr gekauft als gelesen werden. Das Lesen ist ein längeres, ein anstrengendes Unternehmen. Es erfordert Zeit und viel Geduld. Auf mehr als fünfhundert Seiten liefert der Autor genau das ab, was er im Untertitel ankündigt: Eine Autobiographie ohne Ereignisse, ein Roman ohne Handlung.

Nicht einmal Anekdoten lockern die Reflexionen des Ich-Erzählers Bernardo Soares auf. Von ein paar beiläufigen biografischen Randbemerkungen abgesehen, erfahren wir im ganzen Buch über diese Figur nicht viel mehr, als dass sie als Hilfsbuchhalter in einem Textilgeschäft arbeitet.

Soares ist eine fiktiven Ersatzpersönlichkeit Pessoas, eines seiner sogenannten Heteronyme. Weil nun diese Figur die ganze Zeit über sich selbst reflektiert, fällt es besonders schwer, den Autor Pessoa nicht mit dem Heteronym gleichzusetzen, das aus dem Buch der Unruhe spricht. Pessoa selbst hat jedoch strikt getrennt und bestimmte Gemütsverfassungen und Teilaspekte seiner eigenen Persönlichkeit bewusst unterschiedlichen Heteronymen zugeordnet.

Das Heteronym Bernardo Soares steht für eine radikale Verweigerung von Leben und Realität. Soares hält das Träumen für die einzige ihm gemäße Beschäftigung, den Traum für den alleinig erstrebenswerten Geisteszustand. Deshalb müsste dieses Werk eigenlich Buch des Träumens heißen, denn das Träumen ist Thema, nicht so sehr die Unruhe. Aber nicht einmal die Träume werden in diesem Buch konkret, auch sie sind reduziert auf einzelne Bilder, die wiederum in Überlegungen zum Wahrnehmungs- und Realitätsbegriff eingebettet werden. Was genau dieses Soares träumt, bleibt dem Leser genau so sehr verborgen wie seine äußeres Leben.

Für Soares ist der Traum das bessere Leben, und deshalb versucht er, sich so oft wie möglich in einen traumähnlichen oder traumnahen Zustand zu begeben. Dementsprechend hat Pessoa laut eigener Aussage Soares die Feder ergreifen lassen, wenn er müde und schläfrig war.

Soares glaubt sich den meisten anderen Menschen überlegen auf Grund seiner Sensibilität, seiner übersteigerten Wahrnehmungs- und Vorstellungskraft. Er sieht sich auf einer höheren Ebene, obwohl er unglücklich ist. Seine Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren, macht ihn zu etwas Besonderem, hebt ihn ab von der dumpfen Triebhaftigkeit der normalen Menschen. Jegliches materielle Ziel, auch die Liebe und die Sinnlichkeit, verachtet er. Es ist sinnlos, danach zu streben, denn nur im Traum ist Reinheit, Unbeflecktheit und Vollkommenheit möglich. Zur geschlechtlichen Liebe ist seiner besonderen Persönlichkeit wegen weder fähig noch willens.

Die Körperfeindliche, das Spirituelle und Metaphysische wirkt über lange Strecken ermüdend und repetitiv. Das Buch ist zu dick. Es enthält zu viele Wiederholungen. Das ist weniger Pessoa anzulasten, denn es sind Jahrzehnte zwischen seinem Tod und der Erstveröffentlichung vergangen. Das Manuskript besteht aus Hunderten loser Blätter mit schwer oder gar nicht zu entziffernder Handschrift. Hier standen die Herausgeber vor einer enormen editorischen Aufgabe, die sie leider auf eine fragwürdige Weise gelöst haben. Während die erste deutsche Ausgabe noch um die Hälfte kürzer war, hat man in der aktuellen Version die Strategie verfolgt, alle nur irgendwie dem Buch der Unruhe zuzuordenden Texte aufzunehmen. An vielen Stellen mussten unleserliche Worte durch Punkte ersetzt werden. Manches wirkt dadurch fragmentarisch bis hin zur Unverständlichkeit. Für eine historisch-kritische Ausgabe mag dies angemessen sein, nicht aber für ein Buch, das sein Publikum über die Fachzirkel hinaus finden möchte. Es ist bedauerlich, dass der Respekt vor einem großen Autor dazu geführt hat, die Schere völlig aus der Hand zu legen. Ich glaube nicht, dass dies im Sinne des Autors ist und bedauere es, nicht die erste deutsche Ausgabe gelesen zu haben, die noch den Mut zum Kürzen hatte.

Das Buch ist großartig in seiner Sprach- und Bildgewalt, und seiner gedanklichen Tiefe. Hätten die Herausgeber den Mut gehabt an den richtigen Stellen etwas wegzulassen, es könnte eine noch viel größere Wirkung erzielen. Fast ärgerlich stimmt es da, wenn man auf einer der letzten Seiten der Ausgabe eine Äußerung Pessoas bezüglich einer künftigen Veröffentlichung zu lesen bekommt: Die Gestaltung des Buches sollte auf einer möglichst strengen Auswahl der überaus unterschiedlichen Textfragmente beruhen, ... Genau das haben die Herausgeber leider unterlassen.

In seiner jetzigen Form bedarf das Buch eines ausdauernden, ja verzeihenden Lesers. Er muss dem Buch seine Längen vergeben, genau wie er Bernardo Soares seine mönchshaftes Einsiedlertum und seine Menschenverachtung vergeben muss. Wenn er dazu bereit ist, findet er sich einem Einzelkämpfer und Rebellen gegenüber, den kennenzulernen unbedingt lohnenswert ist. In einer Welt, die so sehr wie die unsere an materiellem Denken orientiert ist, ist ein Bernardo Soares Revolutionär. Er verachtet alles Weltliche, verwehrt sich aber gleichzeitig jeglicher Religion und Weltanschauung. Er grenzt sein Ich so sehr gegen alles andere ab, dass es schließlich ganz verschwindet. Menschliche Individualität ist hier zu Ende gedacht worden und hat eine Ausdrucksform gefunden, die beunruhigend frei, beunruhigend einzigartig ist.

Vielleicht ist es deshalb eine gute Idee, beim nächsten Einkaufstrip mal an das Buch der Unruhe zu denken. Das Buch entzieht sich jedem Kommerz. In der sperrigen Ausgabe, in der es jetzt vorliegt, tut es das sogar noch mehr.

Montag, 6. August 2007

Über die feinen Unterschiede im Popcorn-Kino

Die Rezeption des Popcorn-Kino ist eine merkwürdige Sache. Manchmal werden selbstvergessene Kulturredakteure aus ihrem Elfenbeinturm geholt, um das neueste Werk einer Filmgattung zu rezensieren, die sie privat weder schätzen noch lieben. Dann kann es passieren, dass ein hervorragender Kenner des deutschen Autorenfilms plötzlich den neuesten Streifen mit Bruce Willis kritisieren muss. Privat wäre er nie reingegangen, aber der Kollege ist gerade in Urlaub, und einer muss ja. So einer kann gar nicht anders, als die Äpfel seiner sonstigen Sehgewohnheiten mit den Birnen zu vergleichen, die er jetzt vorgesetzt bekommt.

Dann gibt es noch die gekauften Kritiken, bei denen es nur darum geht, die Marketing-Maschinerie zu flankieren. Eine weitere Sorte sind die unreflektierten Meinungsäußerungen einzelnder Kinogänger, die im Internet abstimmen: subjektiv, unüberlegt und leicht zu beeinflussen.

Wer bemüht sich eigentlich, das Genre liebevoll aber objektiv zu betrachten? Ein Beispiel: Jüngst gab es zwei neue Kracher , die mit mehr oder minder großem Erfolg die Gunst der Publikums zu erhaschen versuchten. Zuerst kam Bruce Willis mit dem vierten Aufguss seines langsamen Sterbens Die Hard 4.0 . Jetzt, ein paar Wochen später, kamen die selbsttransformierenden Autos auf die Erde und in die Kinos, um dort als Transformers ihren Krieg zu führen. Beide Filme haben eine ähnliche Zielgruppe, lassen es ordentlich krachen und wollen dem audiovisuell verwöhnten Action-Liebhaber das bieten, was sein Kinderherz erfreut.

Doch nirgendwo hört oder liest man, wie unterschiedlich gut das gelungen ist. Das Charisma eines Bruce Willis würde die Leute auch dann noch ins Kino locken, wenn er neunzig Minuten lang aus einem Telefonbuch vorlesen würde. Tatsächlich ist sein neuester Film fast so langweilig, als täte er es tatsächlich. John McClane ist ein blasses Abziehbild der früheren Jahre. In peinlich platten Dialogen wird versucht, einen Generationenkonflikt zwischen dem Polizisten und seinem jungen Schützling zu konstruieren. Die coolen Sprüche hören sich an, als hätte man sie schon hundert Mal besser gehört. Eigentlich slles ist schon einmal da gewesen, witziger, spannender, unterhaltsamer. Mit jeder Explosion, jedem zerstörten Auto wird die Fantasielosigkeit der Drehbuchschreiber deutlicher. Wer sich diesen Film antut, wundert sich doch sehr, wie der Schauspieler Willis in Interviews behaupten kann, der vierte Teil könne endlich wieder an die Qualitäten des ersten anknüpfen. Der vierte Teil ist der Schwächste, und Willis weiß das mit Sicherheit, aber er darf es nicht sagen. Warum aber sagen es so wenig andere?

Auch Transformers hat den Bundesfilmpreis bestimmt nicht verdient, aber der Film funktioniert. Hier sind die Dialoge noch frisch und witzig, die Darsteller unverbraucht. Die Action ist ebenso solide wie beim alternden Bruce Willis, aber in Transformers ist sie in eine (unglaubwürdige) Handlung eingebettet, die immerhin lustig und überdreht ist. Die Computer-Hacker aus Die Hard 4.0 agieren und reden wie in der x-ten Folge irgendeiner blöden Fernsehserie. Die Hacker in Transformers reden Blödsinn, aber es ist witzig.

Ich weiß nicht, welcher der beiden Filme mehr Kasse macht. Transformers scheint viele schlechte Kritiken einzusammeln. Ich kann nur sagen: Leute, die ihr dieses Genre liebt und deshalb Vergleiche ziehen könnt: Sagt, was Sache ist. Bruce Willis und alle, die mit den Stirb-Langsam-Filmen Kasse gemacht haben, haben ausgesorgt. Gebt dem Nachwuchs eine Chance, seien es nun die Transformers oder irgendwas anderes, was ordentlich Krach macht.

Sonntag, 22. Juli 2007

Haruki Murakami: Gefährliche Geliebte

Haruki Murakami: Gefährliche Geliebte Auf der Vorderseite des Buchdeckels wird Reich-Ranicki zitiert: Ein hoch erotischer Roman. Ich habe eine solche Liebesszene seit Jahren nicht mehr gelesen. Reich-Ranickis Erotik muss sich hauptsächlich im Kopf abspielen, denn auf den Seiten dieses Romans ist sie nicht zu finden. Die deutsche Ausgabe ist aus dem Englischen übersetzt, die Englische wiederum aus dem Japanischen. Vielleicht ist die Erotik ja irgendwo beim Übersetzen verloren gegangen. Und doch hat dieser Roman Millionen auf der ganzen Welt bezaubert hat. Wir zählen inzwischen die siebzehnte deutsche Ausgabe, und es geht weiter. Woran liegt das?

Es ist nun einmal so: Der gemeine Leser muss lesen und für gut finden, was ihm von Presse und Kritik für gut verkauft wird, und was ganz vorne in den Bücherregalen steht. Wie soll er sich auch selbst zurecht finden im Bücherdschungel? Wenn dies nun Murakami ist, dann ist das einfach so, denn Murakami ist Murakami, den kennt man, und der ist ja so gut! Aber was haben wir denn da eigentlich vor uns liegen, wenn wir etwas genauer hinschauen?

Wir haben Shimamoto, die hinkende Jugendliebe eines jungen Japaners. Sie soll irgend etwas Geheimnisvolles haben, aber was, bleibt nur angedeutet. Die Jugendliebe verschwindet und taucht später wieder auf. Sie hinkt nicht mehr, weil sie sich hat operieren lassen, aber der Roman hinkt weiter. Uns wird erklärt, dass diese Frau nichts von ihrer Vergangenheit erzählt, immer mal wieder eine Zeitlang verschwindet, um dann wahrscheinlich wiederzukommen. Es wird versucht, dieses Banale Vokabular: eine Zeitlang ... vielleicht ... mit Bedeutung aufzuladen. Schließlich ist sie ja die große Liebe des Erzählers, und deshalb muss sie einfach geheimnisvoll sein. Aber die gefährliche Geliebte Shimamoto bleibt ein flacher Charakter, unglaubwürdig, ohne echtes Leben. Die Geschichte wirkt ausgedacht, auf den Effekt hin aufgebaut. Die üblichen dramaturgischen Tricks werden aufgefahren, um Romantik zu suggerieren: Gemeinsam Musik trinken, Cocktails schlürfen, den Inhalt einer Urne über dem Wasser verstreuen, mal schnell sterbenskrank werden und dann vom Geliebten gerettet werden, den gemeinsamen Freitod planen und so weiter ...

Das hat es alles schon gegeben, und zwar besser, und mit glaubhafteren Charakteren. Aber es verkauft sich gut, also kann es doch so schlecht nicht sein, oder?

Übrigens: Die Frage, welches Schicksal die Gefährliche Geliebte denn nun in ihrem Leben erfahren hat, wird nicht beantwortet. Der Leser darf Rätseln und Tiefsinn vermuten, wo keiner ist. Somit finden wir nicht nur keine Erotik, wir finden nicht einmal die Auflösung, also auch keine Befriedigung.

Donnerstag, 19. Juli 2007

Philip K. Dick: Der dunkle Schirm

: Der dunkle Schirm ist ein Roman über Drogenmißbrauch. Dick hat ihn von 1972 bis 1975 verfasst, nachdem er selbst eine schwere Krise, einen Selbstmordversuch und einen Aufenthalt in einem Rehabilitationszentrum für Drogenkranke überstanden hatte. Der Roman steht eindeutig in der Tradition der 68er. Er verarbeitet die dunkle Seite dieser Zeit, die Desillusionierung, die Zerstörung von Hoffnung und Idealen im Drogensumpf.

Einmal mehr stellt Dick unter Beweis, dass er keine Science-Fiction-Autor im eigentlichen Sinne ist: Er schreibt über die Gegenwart, seine Zeit, sein Leben und nutzt die Stilmittel der Science Fiction zu Entfremdung und Überzeichnungen. Inzwischen ist das Buch längst als das erkannt worden, was es tatsächlich ist, nämlich ein gesellschaftskritischer Gegenwartsroman.

Worum geht es? Bob Arctor arbeitet als Undercover-Agent im Drogenmilieu. Längst ist er selbst abhängig und verliert mehr und mehr den Bezug zu seiner Identität. Bald hält er sich in seiner Undercover-Identität und in seine Ermittlerrolle für zwei verschiedene Personen. Er beobachtet sich selbst, ja wird sogar dazu beauftragt. Die Grenzen zwischen dem Drogenmilieu und dem Staatsapparat, der den Drogenhandel bekämpfen soll, sind aufgehoben. Die Ermittlungsbehören mit ihren verdeckten Ermittlerin sind längst selbst Teil der Drogenszene geworden. Die Ermittler dealen und konsumieren genau wie diejenigen, die sie hinter Gitter bringen sollen. Jeder Dealer könnte genau so gut ein verdeckter Ermittler sein.

Den größten Raum nehmen Schilderungen ein, in denen auf komische Weise das absurde Verhalten der Junkies beschrieben wird, die zu keinem klaren Gedanken mehr fähig sind. Es gibt absurde Unterhaltungen, irrsinnige Anekdoten traurigen Zerfall. Schon die ersten Seiten geben den Ton an. Auf ihnen wird geschildert, wie Jerry Fabin eine Wahnvorstellung bekommt. Er glaubt sich von Wanzen befallen. Waschzwang, Insektenvertilgungsmittel, eingebildete Schmerzen, verrückte Suchaktionen, das ganze Programm. Jerry Fabin ist einer, der ganz am Ende steht. Sein Gehirn hat sich zersetzt, er wird bald sterben oder in einer Drogenklinik vor sich hin vegetieren. So wird dem Leser schon auf ganz am Anfang vor Augen geführt, wohin der Weg des Protagonisten Bob Arctor unaufhaltsam führt. Auch er landet in einer Drogenklinik. Am Ende erfährt man, dass er immer noch, inzwischen ohne sein Wissen, als Undercover-Agent eingesetzt wird. Er soll die wahren Ziele der Hilfsorganisation Neuer Pfad herausbekommen. Auf den letzten Seiten des Buchs sieht Arctor die Wahrheit und wir sehen uns endgültig einer Welt gegenüber, in der es nichts anderes mehr gibt, als den Anbau, den Verkauf und den Konsum von Drogen. Eine Welt, die sich selbst ad absurdum geführt hat.

Man kann den Roman guten Gewissens als einen Anti-Drogenroman bezeichnen, geschrieben von einem, der die Szene von innen kennt. Dick streitet das jedoch ab. Das Buch enthält ein sehr interessantes Nachbemerkung des Autors, in dem er auf die autobiografischen Bezüge des Romans hinweist und fast so etwas wie eine Deutung gibt. Auch das Nachwort von Christian Gasser ist lesenswert.

Der Roman bleibt erträglich durch seinen absurden Humor. Etwas schwer erträglich scheint mir die Übersetzung zu sein. Sie wirkt manchmal hölzern. Wer kann, sollte Dick vielleicht lieber im Original lesen.

Donnerstag, 5. Juli 2007

Noch mehr Mutmaßungen über Jakob

: Diesen Roman hat Uwe Johnson im Jahr 1958 geschrieben, im Alter von 24 Jahren. Es wurde 1959 in Westdeutschland veröffentlicht, im gleichen Jahr wie Die Blechtrommel von Günter Grass.

Fast möchte man es ein Jugendwerk nennen, besäße es nicht schon in vollem Umfang jene Abgeklärtheit, Strenge und Distanziertheit, die Johnsons Prosa überhaupt auszeichnet.

Eine sehr erhellende Zusammenfassung findet man auf der Seite von Dieter Wunderlich. Das Buch erschließt sich äußerst schwer. Es gibt ständige Perspektivewechsel, sogar innerhalb derselben Szene. Oft ist nicht klar, wer denn nun gerade spricht und seine Sicht der Dinge auf den DDR-Eisenbahner Jakob Abs schildert. Jakobs Freundin Gesine ist mit zwanzig Jahren in den Westen gegangen und arbeitet dort als Übersetzerin. Im Verlaufe des Romans flüchtet Jakobs Mutter ebenfalls in den Westen, Gesine kommt zu Besuch, und Jakob erstattet einen Gegenbesuch. All dies geschieht unter den Augen der Staatsmacht in Gestalt des des Herrn Rohlfs von der Spionageabwehr und seiner Kollegen.

Warum ist dies nun ein Roman, der in den Kanon der deutschen Literatur eingegangen ist? Der Autor Johnson war sehr überzeugt davon, dass sich mit Sprache Wahrhaftigkeit ausdrücken lässt. Genau das ist die Stärke auch dieses Romans. Er ist verdichtete, intensivierte DDR-Realität, ein Zeitdokument von großer Authentizität und Glaubwürdigkeit. Die Charaktere wirken echt und lebendig, und das obwohl die Prosa trocken und ereignisarm daherkommt. Wer verstehen will, wie in der DDR des Jahres 1965 Schicksale einfacher Menschen geprägt wurden durch den Absolutheitsanspruch einer bis tief ins Privatleben vordringenden Ideologie, der liest diesen Roman.

Jakob ist ein unpolitischer Mensch, zuverlässig, arbeitsam, mit einem unkomplizierten, geradlinigen Gemüt ausgestattet. So einer funktioniert im besten Sinne des Wortes. Er ist ein nützliches Mitglied der Gesellschaft, was versinnbildlicht wird durch seinen Beruf als Eisenbahner. Indem er den Zugverkehr koordiniert, hilft Jakob dabei, einen wichtigen Teil der Infrastruktur des Landes aufrecht zu erhalten. Wenn so einem staatsfeindliche Tendenzen unterstellt werden, dann führt sich die Staatsmacht selbst ad absurdum. Sie untergräbt ihre eigene Basis, indem sie das zerstört, was sie selbst am Leben hält: den Fleiß und die Loyalität des gemeinen Mannes.

Der Geheimdienstmann Rohlfs bekommt in diesem Roman selbst menschliche Züge. Er setzt sich gedanklich und emotional mit den Personen auseinander, die er observiert. Seine politische Argumentation gegenüber seinen Opfern ist differenziert, intelligent und persönlich. Letztlich bleibt er dennoch grausam und unerbittlich.

Einer wie Jakob kann nicht über Grenzen hinweg lieben. Seine Liebe zu verwestlichten Gesine ist zum Scheitern verurteilt. Das Hin und Her seiner völlig normalen Liebesgeschichte geschieht unter den Augen der Staatsmacht, die ihm kein Geheimnis lassen möchte. Am Ende bleibt sein Tod ungeklärt. Im Sterben entzieht sich Jakob der Überwachung. Mit dem Ableben endet das Wissen über seine Person, es beginnen die Mutmaßungen. Er ist quer über die Gleise gegangen, ein Eigensinniger, der sich nicht mehr an die Spur hielt. So befreit er sich, indem er sich entzieht.

Der Roman setzt der Individualität des Menschen ein Denkmal. Es gibt immer einen Punkt im Leben eines Menschen, der sich nicht ausleuchten, nicht kontrollieren lässt. Dort gibt es dann nur noch die Mutmaßungen, die Mutmaßungen über Jakob.

Montag, 2. Juli 2007

Mutmaßungen über Jakob

Die Jahrestage hatte 1700 Seiten, und ich hab's irgendwie überstanden.

Da dachte ich, Mutmaßungen über Jakob vom selben Autor schaffst du jetzt locker auch noch. Irrtum! In diesem Buch tauchen zwar einige Figuren auf, deren Leben in Jahrestage wesentlich breiter ausgeleuchtet wird, aber es ist ansonsten nicht zu vergleichen. Natürlich trifft man auch hier auf den unvergleichen Johnson-Stil mit der sprachlichen Exaktheit und dieser engen Verzahnung von realem Erzählhintergrund und Fiktion. Aber das Ganze ist Experimenteller und weitaus weniger homogen als die Jahrestage

Die Erzählperspektive wechselt ständig. Normalerweise ein Todesurteil für einen gewöhnlichen Roman. Angesichts der Tatsache, dass Johnsons Roman aus der Gegenwartsliteratur nicht wegzudenken ist, muss es dem Autor wohl gelungen sein, über dieses Ineinanderschieben unterschiedlicher Erzählstimmen etwas erreicht zu haben. Dazu kann ich vielleicht etwas sagen, wenn ich das Buch zu Ende gelesen habe. Man merkt aber jetzt schon, wie dieses Buch gewirkt hat: Der Erzählduktus kommt mir aus anderen deutschen Gegenwartsromanen bekannt vor. Der Realismus, die scharf geschliffenen Beschreibungen, diese erzählerische Gewissenhaftigkeit bei jeglicher Abwesenheit von Humor, das alles glaube ich auch anderswo schon schlechter gelesen zu haben. Interessant! Man liest sowas und merkt plötzlich, dass hier etwas ist, von dem andere abgeschrieben haben, oder besser, das für andere Vorbild gewesen ist.

Viele unterschiedliche Stimmen berichten über das unscheinbare Leben des gewissenhaften DDR-Eisenbahners Jakob Abs. Warum ist der zu Tode gekommen? - Das ist letztlich wohl nicht so wichtig. Wichtiger ist, was das für ein Mensch ist, nämlich ein harmloser, fleißiger, der einfach nur funktioniert als ein Rädchen im Überwachungsstaat. Und obwohl wir hier einen völlig Unpolitischen vorgeführt bekommen, kann der Überwachungsstaat nicht umhin, sich mit dem zu beschäftigen, ihn zu kontrollieren, zu manipulieren, zu ärgen.

Auf jeden Fall ist das eine beeindruckende Studie, wie die Wadenbeißer des real existierenden Sozialismus in das Leben Einzelner eingegriffen haben. :

Freitag, 15. Juni 2007

Uwe Johnson: Jahrestage (2)

: Johnson hat für den Roman 15 Jahre gebraucht, wobei eine zehnjährige Schreibblockade mit einberechnet ist. Auch das Lesen des Buchs ist ein Ausdauerleistung. Ich möchte an dieser Stelle die ermutigen, die zwar bereit sind, Zeit zu investieren, aber noch zweifeln, ob sich die Mühe lohnt. Sie lohnt sich!

Johnson verfugt übergangslos zwei Zeitebenen ineinander: Das New York von 1968 und das Mecklenburg-Vorpommern der Dreißiger- und Vierzigerjahre. Die Übergänge sind nahtlos, sie erfolgen abrupt von einem Absatz zum nächsten. Nur aus dem Kontext ist zu erkennen, auf welcher Zeitebene man sich gerade befindet. Da dieses Prinzip aber konsequent und sauber durchgehalten wird, ist die zeitliche Orientierung das geringste Lesehemmnis.

Ein größere Barriere stellt die Detailfülle dar, und die damit einhergehende Handlungsarmut, besonders auf der New Yorker Zeitebene, wo es nichts weiteres zu berichten gibt, als den Alltag der Angestellten Gesine Cresspahl und ihrer zehnjährigen Tochter.

Dies ist kein Spannungsroman, sondern eine Gesellschaftsstudie. Erst wenn man mit dieser Erwartungshaltung an das Buch herantritt, wird man ihm gerecht. Wir lesen hier eine literarisches Modell aller wichtigen Staatsformen des zwanzigstens Jahrhunderts: Faschismus, Kommunismus und Kapitalismus. Dieser gesellschaftpolitische Hintergrund nimmt einen weitaus breiteren Raum ein, als die Geschichte selbst. Die Geschichte, das sind Kindheit und Jugend der Gesine Cresspahl im mecklenburgischen Kleinstädtchen Jerichow. Das ist darüber hinaus die Cresspahlsche Familiengeschichte und viele weitere Einzelschicksale.

Ein Unzahl von Biographien wird geschildert. Ihr Verlauf wird vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg, bis in die Erzählergegenwart der 68-er hinein ausgebreitet. Johnson schafft das, was große Epen ausmacht: Er spannt den Bogen über eine ganze Epoche, entwirft das Gesamtbild einer und legt einen geschlossenen erzählerischen Rahmen um die Einzelschicksale aller seiner Figuren. In dieser Hinsicht ist dieser Roman gelungen. Er bricht nicht auseinander, scheitert nicht an seinem großen Umfang, enthält keine Stilbrüche, keine (jedenfalls keine mir erkenntlichen) Inkonsequenzen oder Schwankungen.

Das erzählerische Konzept ist komplex, aber exakt definiert und wird konsequent durchgehalten: 365 Einträge, einer für jeden Tag vom 19. August 1967 bis zum 20. August 1968. Der Autor grenzt sein Format explizit ab gegen die Tagebuchform. Die einzelnen Abschnitte sind ihrem Wesen nach nicht Tagebucheinträge, sondern gehen darüber hinaus. Zwar beziehen sie sich auf den Kalendertag und zitieren oft aus der Tagespresse, enthalten aber auch stets Rückblicke in die Vergangenheit. Es sind Einträge für den täglichen Tag, oder eben Jahrestage.

Die Erzählperspektive ist nicht einfach diejenige Gesine Cresspahls, sondern es spricht die Erinnerungsstimme Gesines durch die Feder eines mit ihr befreundeten Autors, der nicht näher benannt und beschrieben wird. Gesine hat mit diesem Schriftsteller, der wohl Johnson heißen könnte, ein Abkommen getroffen: Er soll ihr Leben innerhalb eines Jahres in dieser Form zu Papier bringen.

Die Rückblicke in Gesines Kindheit erhalten ihren Rahmen dadurch, dass Gesine im Verlaufe des Jahres ihre gesamte Kindheit der Tochter Marie berichtet. Der Autor Johnson zeichnet diese Berichte auf. Wir haben also eine Dreieckssituation: Gesines Tochter ist die Zuhörerin. Gesine selbst ist die Sprecherin. Der Autor agiert als Protokollant im Auftrag und nach der Vorstellung Gesine Cresspahl. Er ist lediglich das ausführende Organ für die sprachliche Manifestation des Ganzen.

Warum kompliziert Johnson die Erzählperspektive, indem er einen auktorialen Erzähler hinzufügt? Warum beschränkt er sich nicht völlig auf die Perspektive Gesines, wo doch einzig ihr Erinnerungsmaterial und ihre Gegenwart Gegenstand sind? Der Text wirkt dadurch objektiver, glaubwürdiger! Johnson hat den Anspruch, eine Gesamtschau mehrerer Gesellschaftsformen abzuliefern. Das erfordert erzählerische Authorität. Diese Authorität würde leiden, spräche lediglich die kleine Angestelle Gesine Cresspahl über weltpolitische Ereignisse. Kurz: Der Erzähler im Hintergrund bewirkt eine Distanzierung von und eine Objektivierung der Protagonistin.

Genauso übergangslos wie zwischen den Zeitebenen wechselt der Text von der Ich-Form in die dritte Person, je nachdem ob das Subjekt Gesine Cresspahl oder der imaginäre Schriftsteller das Wort führt.

Damit wird das über mehrere Zeitebenen reichende gesellschaftliches Panorama erlebbar und fühlbar, ohne zur trockenen Sozialstudie zu verkommen. Gesine Cresspahls Erinnerung ist das emotionale Fluidum, welches dem Text das Leben einhaucht. Ohne sie hätten wir es mit einem trockenen Konvolut aus Einzelepisoden zu tun, dem der dichterischen Fluß fehlen würde.

Es gibt noch weitere solcher verbindender Elemente. Zu Beispiel ist Gesine Cresspahl akribische Leserin der Tageszeitung New York Times.. Dort findet sie die tagesaktuellen Nachrichten, die ihr Anlass geben, über ihre Gegenwart zu reflektieren. Von dort schlägt sie den Bogen zu ihrer Vergangenheit, und weil wir durch die raffinierte Erzählweise an ihrer Erinnerung teilnehmen, nimmt sie den Leser mit auf eine Zeitreise und schlägt ihn in ihren Bann.

Johnsons Recherchen müssen akribisch gewesen sein. Das spiegelt sich in der Detailgenauigkeit wieder, mit der die gesellschaftlichen Verhältnisse in Gesines Heimatort Jerichow geschildert werden, und zar bis hinein in die lokalpolitischen Hahnenkämpfe. Wenn man sich darauf einlässt und die nötige Geduld und Ausdauer mitbringt, dann wird das Lesen irgendwann (nach ein paar hundert Seiten) zu einem berauschenden Erlebnis. Wer durchhält, dem wird klar: Hier hat einer Wirklichkeit in Sprache gefasst. Das Ganze ist so vielfältig, dass es in ein paar feuilletonistischen Absätzen nicht vollständig erfasst werden kann.

Mittwoch, 9. Mai 2007

Uwe Johnsons Jahrestage als Blog

Ich lese zur Zeit Jahrestage von Uwe Johnson. Untertitel: Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. 365 Einträge vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968. Es ist kein Tagebuch, da das Alltagsleben von Gesine Cresspahl nur das Trägermedium für ein zeitgeschichtliches Panorama liefert.

Es wird die Familiengeschichte der Cresspahls erzählt, von Gesines Geburt an, ihre Kindheit im dritten Jahr, der Zusammenbruch, der Neuanfang im Osten unter kommunistischer Herrschaft. Der Vietnamkrieg spiegelt sich wieder in Zitaten und Verweisen auf die New York Times. Der Prager Frühling spielt eine entscheidende Rolle, und es ist bestimmt kein Zufall, dass der letzte Eintrag vom 20. August stammt, also ein Tag bevor die Truppen des Warschauer Pakts in Prag einmarschierten.

Gesines Alltag im New York von 1968/1969 bildet die Rahmenhandlung und bringt neben Nationalsozialismus und Kommunismus die dritte wichtige Staatsform des zwanzigsten Jahrhunderts in diesen Roman ein.

Der Roman hat mehr als 1700 Seiten und spannt einen gewaltigen Bogen über die Gesellschaften der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Strukturgebend ist die chronologische, tagebuchähnliche Form, bei der jeder Eintrag sich auf einen Tag bezieht, ohne den Tag als solchen ausschließlich zum Gegenstand zu haben.

Indem Johnson sich dieses strenge Korsett anlegt, kann er mit Rückblicken, Zeitungsausschnitten und Exkursen aller Art arbeiten, ohne dass der Roman die Form verliert und zu einem zusammenhanglosen Konglomerat wird. Vielleicht ist das eine der großen Stärken dieses Buches: Es fällt nicht auseinander, sondern schafft tatsächlich die Klammer um mehrere Jahrzehnte der europäischen und amerikanischen Geschichte.

Fiktives wird so in den realen zeitgeschichtlichen Hintergrund integriert, dass es kaum noch zu unterscheiden ist. Die kleine mecklenburgische Stadt Jerichow dient als Modell, an dem in Form vieler Einzelschicksale der Weg Deutschlands ins Dritte Reich und wieder heraus geschildert wird. Die Stadt ist fiktiv. Ihr Werden und ihr Wandel im Laufe der Zeit wird umfassend beschrieben, bis hinein in die Querelen der Lokalpolitik, und bis zu städtebaulichen Details: Man nimmt dem Autor unwillkürlich ab, er habe eine die Geschichte einer realen Kleinstadt recherchiert.

Tatsächlich hat Johnson hier eine kleine exemplarische Welt erschaffen, um seine persönliche Analyse des dritten Reichs durchführen zu können.

Da ich mich zur Zeit mit Blogs beschäftige, finde ich die Struktur des Romans besonders interessant. Heutzutäge läge es nahe, den Roman im Internet in der Form eines Blogs zu veröffentlichen. Man könnte das Buch dann auf eine völlige neue Art und Weise lesen. Es treten im Verlaufe der 1700 Seiten viele Personen auf, verschwinden wieder, um erst einige hundert Seiten später wieder erwähnt zu werden. Wie nützlich wäre da die Suchfunktion eines Blogs! Um wie viele einfacher wäre es, Bezüge deutlich zu machen, Zusammengehörendes zu gruppieren: Man könnte Tags verwenden, mit deren Hilfe in Blogs thematisch zusammegehörige Einträge gekennzeichnet werden können.

Jahrestage als ein riesiger Blog! Für mich eine faszinierende Vorstellung!

Donnerstag, 1. Februar 2007

Thomas Hettche: Nox

: Angeblich ist das ein Wendezeit-Roman. Ich kann mich aber des Verdachts nicht erwehren, dass der 9. November 1999 als Tag der Handlung nur gewählt wurde, damit über den zeitgeschichtlichen Rahmen ein Bedeutungskontext hineininterpretiert werden kann, den das Buch in Wahrheit gar nicht hat.

Es muss irgendwo in Deutschland eine Schreibschule geben, die darauf besteht, dass Detailgenauigkeit, Faktenreichtum und Akribie bei der Recherche genügen, um einen guten Roman zu schreiben. Sie genügen nicht! Und es genügt auch nicht, eine Folge drastischer Szenen in einen einzigen Tag zu pressen, um atmosphärische Dichte zu erzeugen. Das hat früher bei Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras" nicht richtig hingehauen, und es funktioniert bei Hettche im neuen Jahrtausend ebenfalls nicht.

Also gut: Die Mauer ist offen, man kann sich auf den Rücksitz eines Trabi setzen, dort koitieren und gleichzeitig über die Grenze fahren. Man kann sich Zigaretten auf der Haut ausdrücken lassen und dabei an die Heilung von Wunden denken, weil die Grenze ja auch so was wie eine Wunde gewesen ist. Na und? Da wird dick aufgetragen, und weil eben doch kein rechter Tiefsinn aufkommen möchte, immer dicker und dicker. Es klaffen die Wunden, es eskalieren die Exzesse. Das Ganze ist weder glaubwürdig, noch überzeugend.

Natürlich hat sich da wieder einer extrem viel Mühe gemacht, hat seine ganze Sprachgewalt bemüht, hat genau recherchiert, an den Sätzen gefeilt. Er kann schreiben, der Hettche, und er kann denken, nur kriegt er leider beides nicht zusammen. Über der Eleganz seiner Sätze hat er die einfachsten Fragen vergessen: Warum das alles? Warum die Maueröffnung mit einer klaffenden Wunde vergleichen, und nicht mit einer heilenden? Das Gegenteil wäre doch näher gelegen, oder? Bestimmt hat Hettche darauf eine kluge Antwort, und vielleicht steht sie sogar im Text und ich habe sie nicht gefunden. Sie würde mich nicht überzeugen, kännte ich sie, denn das Buch als solches überzeugt mich einfach nicht.

Seit Joyce' Ulysses gibt es immer wieder Autoren, die sich der Herausforderung stellen, die darin besteht, die Handlung eines Romans auf einen einzigen Tag zu konzentrieren. Der schon erwähnte Koeppen hat das vor Jahrzehnten getan, und es ist intellektualisierendes Epigonentum dabei herausgekommen. Zeitschmerz in feinstem Romandeutsch. Genau daran ist auch Hettche gescheitert: Am seinem klugen Kopf, an seinem literarischen Feinsinn, mit dem er seine wilden SM-Szenen nicht adelt, sondern ihnen das Leben entzieht. Sie sind nämlich nicht lebendig, sondern papieren. Das bisschen Glaubwürdigkeit ist im Bedeutungswust und im Faktenwahn verloren gegangen.

Ich wünsche mir wirklich, Hettche hätte ein wenig schlechter recherchiert und seine Sätze etwas gröber gelassen. Dann hätte er vielleicht mal Zeit und Muße gehabt, einen Schritt zurückzutreten und seinen Text platt und glatt gegen die Wirklichkeit zu halten. Er wäre dann unter Umständen sogar auf die Idee gekommen, die Lupe mal wegzulegen und mit seinen gesunden Augen hinzusehen. Dann hätte er sich gesagt: "Schreib doch bitte entweder eine SM-Geschichte, oder einen Wenderoman. Aber nicht beides gleichzeitig, das kriegst du nämlich nicht zusammen. Du nicht!"

Samstag, 20. Januar 2007

Doktor Schiwago

: Es nicht gelesen zu haben, ist eine jener Bildungslücken gewesen, die ich ungern offen lasse.

Was für ein Land! Was für Menschen! Dr Schiwago entstammt der Oberschicht des vorrevolutionieren Russland. Er ist ein sensibler, universell begabter Mann mit Interesse sowohl an Poesie und Naturbeobachtung, als auch an den Naturwissenschaften. Sein Verhalten und sein Charakter wird von ethischen und humanitären Maßstäben bestimmt. Folgerichtig wird er Arzt.

Die grausame Geschichte Russlands verhindert eine glanzvolle Karriere, die seinen Begabungen entsprochen hätte. Er wird im ersten Weltkrieg als Frontarzt zwangsverpflichtet, dann bricht die russische Revolution aus. Es gibt bittere Hungersnöte in kalten Wintern. Er flüchtet mit seiner Familie in den Ural, wird von Partisanen entführt und gezwungen, ihr Feldarzt zu werden und und und ...

Der Roman ist auch ein Liebesgeschichte, aber er ist vor allem eine Geschichte Russlands. Tragik ist nicht der richtige Ausdruck für das Geschehen, weil ihm dazu die Unvermeidlichkeit fehlt. Es sind stets Menschen, die entscheiden, und sie könnten auch anders. In der Weite langer kalter Winter bewegt sich eine leidgeprüften Volksseele auf einen Abgrund zu.

Langsam zieht die Revolution herauf, der Bürgerkrieg. Er kündigt sich erst durch unheilvolle Vorzeichen an, wird dann allmählich stärker, grausamer allumfassender. Der Krieg verbündet sich mit der Tundra und ihrer Winterkälte, mit den Eitelkeiten und den Dummheit der Menschen, er zerstört uralte Traditionen und gewachsene Strukturen.

In alledem versucht Schiwago, sich seine Menschlichkeit zu bewahren. In einem Güterwaggon reist er nach Sibirien, muss die Geleise vom Schnee freischaufeln und kann dabei (einer völlig ungewissen Zukunft entgegensehend) dennoch die Schönheit der Scheelandschaft genießen und Gedichte schreiben.

Er liebt Lara, die er von Jugend auf kennt und mit der er erst viel später zusammenkommt. In dieser Liebe findet der Roman seinen Höhepunkt, denn sie kann sich in der neuen nachrevolutionären Zeit nicht erfüllen: Regimeterror und Denunziantentum lassen nicht mehr zu, dass blüht, was blühen möchte. Seine nicht-proletarische Herkunft und sein lebenslanges Ringen um Familienglück, ja nur ums nackte Überleben, haben genügt, ihn zu einer unerwünschten Person werden zu lassen, die jederzeit mit ihrer Verhaftung rechnen muss.

Lara und Schiwago lieben sich trotzdem. Sie leben den unmöglichen Traum, flüchten in die Einsamkeit, Wölfe schleichen ums Haus und es ist klar, es wird nicht gehen. Letztlich ist es Laras Wunsch, einfach nur zu überleben, der beide wieder auseinandertreibt. Sie sind noch nicht mal vierzig Jahre alt. Da ist es einfach noch zu früh zum Sterben.

Lara ist der schöne Engel in diesem Roman, aber sie ist auch ein Opfer ihrer Weiblichkeit und der Willkür eines Mannes, der sie in jungen Jahren verführt und manipuliert. Tugendhaftigkeit und Sinnlichkeit vereinen sich in ihr, ohne zu einem Widerspruch zu führen: Letztlich strebt auch sie wie Schiwago nur nach Normalität und Liebe. Auch sie ist ein Spielball der Zeitgeschichte, der immer dann wieder fortgetragen wird, wenn er gerade einmal zur Ruhe gekommen ist.

Die Hauptfiguren des Romans wollen einfach nur leben, die Betonung liegt auf einfach. Das korreliert mit der Aussage Pasternaks, der sich schon früh vorgenommen hatte, ein "ganz einfaches" Buch zu schreiben. Damit wollte er wohl auch ausdrücken, dass es vom theoretischen Ballast des Zeitgeistes frei sein sollte. Es sollte ein Buch sein, dass die Geschichte so erzählt, wie sie gewesen ist, und wie sie empfunden worden ist, und nicht mehr. Das ist ihm sicher gelungen, obwohl Pasternaks poetisches Naturell ihn daran hindert, zum vollkommenen Realisten zu werden.

Trotzdem gibt es Stellen in dem Buch, in denen Weltanschauliches und explizit Politisches einfließt. Das macht das Buch erst Recht zu einem russisches Buch, denn es verankert sich dadurch in der Tradition russischer Romanliteratur: Diese hatte immer schon eine Tendenz, das menschliche Einzelschicksal in einen geschichtlichen oder gesellschaftlichen Kontext einzubinden. Man denke nur an Tolstois Krieg und Frieden, man denke auch an Dostojewski.

Die großen Romane Russlands sind immer Romane, in denen man gewissermaßen durch ein mit Eisblumen der Fantasie bewachsenes Fenster einen Blick auf das dunkle kalte Land und seine warmen Menschen werfen kann.

Ja, in Doktor Schiwago brennt die Glut des eisernen Ofens im russischen Haus. Der Sturm der Zeit weht das Dach davon, und darunter frieren die Menschen. Sie haben es schwer, sie leiden, sie lieben und kämpfen. Der Ofen brennt weiter und Schneeflocken fliegen darauf. Das ist für mich Russland.