Freitag, 5. Juni 2009

Warum Automaten und Computer was für Arme sind.

Es ist alles so mühselig: Fahrkarten am Automaten, Bankgeschäfte im Internet oder am Automaten, Hotelreservierungen im Internet oder am Telefon, Reisen buchen, Flüge buchen, Urlaub buchen, alles über das Internet. Angeblich ist das billiger. Auf jeden Fall ist es teurer, wenn man persönliche Beratung will oder braucht.

Manchmal heißt es, so würde alles viel schneller gehen. Aber an den Automaten gibt es auch schon Schlangen. Wer Geld am Automaten abheben möchte und das an einem zentralen Ort, der muss sich unweigerlich hinten anstellen, bis der Automat Zeit für ihn hat.

Auf jeden Fall wird Personal eingespart. Auf jeden Fall sind die Automaten billiger. Auf jeden Fall wird die Vielfalt der Dienstleistungen eingeschränkt, denn ein Automat kann immer nur das, was vorher in ihn hineinprogrammiert worden ist. Ganz bestimmt werden die Ersparnisse nicht einfach an den Verbraucher weitergegeben. Nein, die Maschine sort dafür, dass der, dem sie gehört, besser verdient. Der auf die Maschine angewiesen ist, dem bringt sie keinen Mehrwert.

Ich kaufe deshalb meine Fahrkarten am liebsten am Schalter. Zum Glück gibt es die noch. Es sind noch nicht alle abgeschafft worden. Aber auch da kann man Pech haben. Bei gewissen lustlosen und mißgelaunten Bahnangestellten habe ich mir schon gewünscht, ich würde von einem Automaten bedient werden. Der hätte schneller und unkomplizierter funktioniert. Dasselbe gilt für Postangestellte. Ein Beispiel:

Sie sah nett aus, abgesehen von den künstlichen Locken. Die Augen etwas dornig. Irgendwo muss sie ja Geld verdienen, denke ich, warum nicht hier am Postamt in der Kreuznacherstrasse in Berlin. Ich habe da ein paar Briefumschläge unterschiedliche Größe, für die würde ich gerne die entsprechenden Briefmarken kaufen. Was aber bedeutet nun genau entsprechend.? Das kann mir diese Postangestellte nicht sagen, es kommt schließlich darauf an, wie viel man da reintut, in diese Briefumschläge. Aber es muss doch ein übliches Gewicht geben, argumentiere ich. Übliches Gewicht, damit kann die Postangestellte erst recht nichts anfangen. Vermutlich will sie sich schon deshalb nicht festlegen, weil ich sonst auf die Idee kommen könnte, sie nachträglich verantwortlich zu machen, wenn ich meine Briefe falsch frankiere. Sie ist ja Amtsperson. Auf keinen Fall darf sie falsche Aussagen machen. Zugegeben, meine Frage war unscharf. Ich weiß einfach nicht genau, was für Briefmarken ich brauche, und ich weiß auch nicht, wie schwer meine Briefe sein werden? Eine Maschine wäre mit einer solchen Fragestellung definitiv überfordert. Und die Postangestelle aus Fleisch und Blut und mit falschen Locken? Die ist nicht unbedingt überfordert, aber unwillig. Sie möchte auf unexakte Fragen nicht antworten. Sie nimmt sich für ihr Verhalten die Maschine zum Vorbild. Die Maschine hätte ihr jedoch voraus, dass ich mich nicht über ihre schlechte Laune und ihre Gehässigkeiten ärgern muss. Also muss ich der Postangestellten leider sagen, dass eine Maschine ihren Job besser erledigen würde, als sie es tut. Und billiger noch dazu. Die Postangestellte regt sich jetzt richtig auf. Sie fühlt sich im Recht, und ich bin der unverschämte Kunde. Außerdem ist sich die Postangestellte sicher, dass sie ihren Job nicht verlieren wird. Es gibt schließlich Verträge - und Tarifverträge. Die Postangestelle hat es gut. Ich werde in zehn Jahren noch mal nachfragen, wie es ihr geht. Bin gespannt, ob sie ihren Job dann noch hat.

Maschinen und Menschen, die geben sich also nicht viel. Und ich sage es noch einnmal: Maschinen in der Zukunft, die werden da sein für die Armen, für die Benachteiligten, für die Mühseligen und Beladenenen. Es gibt Länder, da versuchen sie schon, Altenpflege durch Maschinen erledigen zu lassen. Oder Lehrer durch Roboter zu ersetzen. Fürs Putzen werden sie schon lange verwendet. Was das Putzen angeht: Wo ich momentan arbeite, da kommt abends eine afroamerikanische Putzfrau, keine fünfundzwanzig. Ihre Haut glänzt wie schwarzer Samt. Sie schaut etwas unglücklich. Vielleicht hat man ihr schon den Putzroboter gezeigt, der sie demnächst ersetzen soll.

Donnerstag, 19. März 2009

Edgar Allan Poe: Die denkwürdigen Erlebnisse des Artur Gordon Pym

Edgar Allen Poe: Die denkwürdigen Erlebnisse des Artur Gordon Pym Wer diesen Roman ernst nimmt, hat schon verloren, denn er wird vom Autor getäuscht, von der ersten bis zur letzten Seite.

Poe hat sich in der Romanform nicht wirklich wohl gefühlt, das verrät schon die interessante Entstehungsgeschichte des Buchs: Es ist geschrieben worden, um damit Geld zu verdienen. Die Kurzgeschichten, die er für gewöhnlich schrieb, brachten nicht genügend ein. Was geschieht nun, wenn ein Autor wie Poe den Versuch unternimmt, einen kommerziell erfolgreichen Roman zu schreiben?

Der Ich-Erzähler schifft sich aus Abenteuerlust als blinder Passagier ein und muss sich tagelang unter Deck in drangvoller Enge und bei Dunkelheit verstecken. Man begegnet einem für Poe typischen Motiv, der Angst vor dem Lebendigbegrabensein. Es folgen eine Meuterei, schweres Gemetzel, Seenot und glückliche Rettung. Dann ein merkwürdiger Bruch in der Erzählung: Plötzlich liest man naturkundliche Beschreibungen, nautische Fachsimpeleien, Seefahrtshistorie. Eigentlich hat der Autor seine Geschichte zu Ende erzählt, aber er schreibt trotzdem weiter. Und weil ihm grade nichts mehr einfällt, kopiert er ganze Textstrecken aus anderen Büchern. Dabei kann er noch nicht einmal auf eine besonders große Referenzbibliothek zurückgreifen. Poe ist ein armer Mann, und die paar Bücher über Seefahrt, die ihm zur Verfügung stehen, müssen reichen. Sie werden bedenkenlos geplündert. Die Lustlosigkeit ist so offensichtlich, dass man davon ausgehen muss: Sie wollte bemerkt werden.

Schließlich, im dritten Teil des Romans, nähert sich die Reise mehr und mehr dem Südpol an. Ein unbekanntes Volk taucht auf: schwarze Menschen mit schwarzen Zähnen, die in Erdlöchern hausen. Sie zeigen sich erst freundlich, erweisen sich dann aber als grausame Meuchler. Den Ich-Erzähler verschütten sie unter einer Gerölllawine. Die Art, wie er dort eingeschlossen ist, erinnert erneut an die Situation des Lebendigbegrabenseins. Es folgen merkwürdig ausführliche Landschaftsschilderungen, sogar mit Skizzen illustriert, die an Buchstaben einer unbekannten Sprache erinnern.

Vögel, die einen geheimnisvollen Laut von sich geben, den auch die Eingeborenen in ihrer Sprache verwenden, merkwürdige Zeichen, die in die Landschaft geschrieben sind, all das ist Humbug, es ist ein Witz.

Dann Befreiung, Weiterfahrt in Richtung Südpol, merkwürdige Lichterscheinungen am Himmel, Ascheregen und gegen Ende eine übergroße Gestalt, die sich aus dem Meer erhebt.

Zunächst möchte man annehmen, hier würde eine besonders rätselhafte und verworrene Geschichte geschildert. Durch die Deutung der Hinweise und Indizien, müsste es möglich sein, hinter den Sinn zu kommen. Aber einen Sinn gibt es nicht. Der Roman ist ein schlechter Witz, der Witz eines Schriftstellers, der sich über seine unterhaltungsuchenden Leser lustig macht. Das, und nur das ist die Stärke des Buchs. Im Nachwort heißt es, die letzten drei Kapitel der Erzählung seien verloren gegangen. Es werden Gründe genannt. Aber die Vermutung, Poe hätte eine Fortsetzung geplant, ist falsch. Er hat vielmehr die Schraube so lange angedreht, bis nichts mehr geht. Seine Geschichte lässt sich überhaupt nicht sinnvoll zu Ende erzählen. Er hat sie absichtlich gegen die Wand gefahren.

Wenn dieses Buch eine Botschaft hat, dann Provokation: Ihr wollt einen spannenden Roman lesen? Hier habt ihr ihn! Aber der Leser bekommt nicht das, was ihm versprochen wird. Er erhält eher eine verkappte Satire. Man könnte auch von absichtsvollem Scheitern reden, oder von einem literarischen Lausbubenstreich.

Vermutlich gibt es viele Interpreten, die sich ausführlich mit der in den letzten Kapitel auftauchenden Symbolik beschäftigt und Deutungsversuche angestellt haben. Diese Leute, muss man leider sagen, haben sich von Edgar Allan Poe veralbern lassen.

Dienstag, 17. März 2009

Winnenden: Die Waffe

Es gibt viele offensichtliche Parallelen zwischen Erfurt und Winnenden. Der Schützenverein zum Beispiel. Was mich bei diesen Vereinen verwundert, ist die Tatsache, dass dort offenbar nicht nur mit speziellen Sportwaffen geschossen wird. Ich bin in meiner Naivität bisher davon ausgegangen, dass Sportschützen Waffen benutzen, die für ihren Sport speziell ausgelegt sind. Aber anscheinend werden dort Waffen eingesetzt, die auch von Polizisten oder Soldaten eingesetzt werden. Ist das richtig und muss das so sein?

Darf man bei solchen Waffen nach ihrem Verwendungszweck fragen? Wenn sie nicht speziell für den Schützensport entwickelt worden sind, wozu dann? Genügt es wirklich, von einer Waffe zu wissen, dass sie den Zweck hat Menschen zu töten? Wenn diese Waffe keinen legitimen, offiziellen Verwendungszweck hat, für den sie hergestellt worden ist, was hat sie dann in Deutschland zu suchen? Was hat sie in Winnenden zu suchen?

Offensichtlich passieren solche Amokläufe genau dann, wenn ein dazu prädestinierter labiler Jugendlicher an solche Waffen kommt. Die Waffe muss verfügbar sein. Sonst passiert gar nichts. Da frage ich mich natürlich, wie viele andere potenzielle Amokläufer nur deshalb nicht zur Tat schreiten, weil sie nicht an eine Waffe kommen.

Montag, 16. März 2009

Winnenden: Igor W. hat Glück gehabt

Igor W. ist der Mann, den Tim K. als Geisel genommen und gezwungen hat, ihn in seinem Auto nach Wendlingen zu fahren. Deshalb ist er vermutlich der Einzige, der mit dem Amokläufer während seiner Tat gesprochen hat. Alle rätseln über das Motiv. Vielleicht könnte Igor W. etwas dazu sagen. Er hat überlebt, hat dabei wahrscheinlich noch Glück gehabt, ist in einem günstigen Moment aus dem Wagen gesprungen. Da der Täter wahllos Leute erschoss, gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass er Igor W. verschont hätte.

Nun ist Igor W. in einer merkwürdigen Lage. Einerseits muss er bestimmt einen schweren Schock verarbeiten, andererseits ist heißbegehrt bei den Medienleuten. Er muss sich schnell entscheiden, wie er sich gegenüber den Journalisten verhält. Er könnte sich ganz zurückziehen und sich von seinem Schrecken erholen. Es genügt ja, wenn er der Polizei erzählt, was er weiß. Er könnte sich durchreichen lassen von einer Talkshow zur nächsten, von einem Interview zum anderen.

Er könnte aber auch auf den hören, der ihm sagt: Machen Sie das Beste aus ihrer Situation. Sie können sich nicht verstecken vor der Öffentlichkeit. Aber sie brauchen sich auch nicht zerfleischen zu lassen. Wählen Sie die goldene Mitte, unterzeichnen Sie einen Exklusivvertrag. Damit ist allen gedient: Die Öffentlichkeit wird informiert, wir schützen Sie vor der neugierigen Konkurrenz und Sie verdienen sogar noch ein bisschen dabei.

Und genau für diese Möglichkeit hat sich Igor W. entschieden: Er hat einen Exklusivvertrag unterschrieben. Wer mag ihm das verdenken? Vielleicht ist jetzt eine neues Auto drin. Mit dem Alten fährt er womöglich nicht mehr so gerne. Womöglich kann er ein paar alte Schulden zurückzahlen.

Ich mache Igor W. keine Vorwürfe. Vielleicht hätte ich mich genau so verhalten. Vielleicht auch nicht. Das kann ich nicht sagen, weil ich mich nie in einer vergleichbaren Situation befunden haben. Ich hätte aber bestimmt ein ungutes Gefühl, an seiner Stelle.

Es ist keine Woche vergangen, und schon lassen sich mit sechzehn toten Menschen gute Geschäfte machen. In den Zeitungen steht schon etwas von Trauerarbeit, und vom allmählichen Zurückfinden zur Normalität. So schnell geht das also? Anfang der Woche hast du mit ansehen müssen, wie deiner Mitschülerin ein Loch in den Kopf geschossen wurde. Sie hatte den Schreibstift noch in der Hand, da war sie schon tot. Heute darfst du schon wieder in die Schule gehen und mit der Trauerarbeit anfangen. Es fragen schon die ersten, wie lange es wohl dauert, bis man drüber weg ist. Warum so ungeduldig, frage ich zurück?

Ich war nicht dabei in Winnenden. Ich habe auch noch nie etwas so Schlimmes erlebt. Ich hatte schon böse Erfahrungen, harmlos im Vergleich zu Winnenden. Selbst bei dem, was ich erlebt habe, konnte ich nach einer Woche auch nicht ansatzweise erfassen, was es bedeutete, und bin bis heute nicht drüber weg . Die in Winnenden, die sind angeblich schon mitten in der Trauerarbeit. Ich kann das nicht glauben.

Hoffentlich findet Igor W. die richtigen Worte, wenn er denn endlich im Studio sitzt und gefragt wird, wie es gewesen ist. Die Einschaltquoten sind ihm jedenfalls sicher. Wir werden ihm zuhören und werden es ganz genau wissen wollen. Igor W. ist dem Tod von der Schippe gesprungen. Wir werden mit ihm fühlen, und dieses Mitgefühl wird angenehm sein. Dann werden wir in unsere warmen Betten gehen.

Sonntag, 15. März 2009

Winnenden: Warum hat er es getan?

Warum er es getan hat, ist eine der ersten Fragen gewesen, die gestellt worden sind. Viele fühlen sich berufen, dazu Mutmaßungen anzustellen.

Dabei ist die Frage dazu prädestiniert, niemals beantwortet zu werden. Könnte man ihn noch fragen, und er würde eine Antwort geben, dann käme die nächste Frage: Warum ist er so geworden?

Diese Frage scheint mir wichtiger, denn sie deutet wieder zurück auf uns selbst. Es gibt zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass es monströse Taten immer geben wird, man sie niemals ganz verhindern wird. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere wäre, man fragt sich, in welcher Welt so einer aufgewachsen ist. Warum niemand zu ihm vorgedrungen ist, warum niemand sehen konnte, wie Tod und Zerstörung heranwachsen. Die erste Möglichkeit bringt uns nicht weiter, selbst wenn sie richtig sein sollte. Die zweite lässt sich nicht von der Hand weißen. Es ist die einzig wichtige Frage, die Frage nach uns selbst, denn der Täter ist tot. Nach dem brauchen wir nicht mehr unbedingt zu fragen. Nach uns sollten wir fragen.

Tim K. war einer wie viele. Das wollte er nicht mehr sein. - Es nicht mehr zu sein, hat er geschafft, indem er fünfzehn Menschen umgebracht hat. Die anderen aber, die sich von der Masse genau so wenig unterscheiden, wie es Tim K. getan hat, die sollten wir jetzt anschauen. Die sind nämlich noch am leben. Man kann sie retten. Vergessene, Schüchterne, die sich leicht an die Wand drücken lassen, die man nicht beachtet. Jeder von uns kennt so einen. Man braucht nicht lange zu suchen, wenn man die Augen offen hält. Es gibt so viele, so unendlich viele: Jungs, die heranwachsen in scheinbar intakten Familien, aber niemanden haben, dem sie vertrauen wollen. Den Eltern sind sie fremd, die Freundschaften bleiben an der Oberfläche. Für sie ist alles Oberfläche, nichts hat Tiefe. Darum sehen sie in ihrem Leben keinen Sinn. Sie hatten noch nie einen Menschen, mit dem sie richtig ehrlich und aufrichtig reden konnten. Entsetzlich einsame Menschen, die in einer einsamen Welt groß werden, ein Welt die harmlos scheinen möchte und harmlose redet den ganzen Tag. Könnte es sein, dass eine solche Welt ein guter Nährboden ist, für Amokläufer?

Wieder einmal wird über Gesetze geredet, die dafür sorgen, dass Waffen noch besser weggeschlossen werden müssen. Das ist lobenswert. Aber was wollen wir tun mit all den potenziellen Amokläufern, die keine Waffe in die Hand bekommen? Wir werden sie nicht einmal erkennen! Es wird sie trotzdem geben. Sie werden mitten unter uns sein. Sie sind bereits mitten unter uns. Redet mit denen, die offenbar niemanden haben, mit dem sie reden können. Redet jeden Tag mit denen! Und wenn sie euch anschweigen, redet weiter mit ihnen. Redet mit ihnen, bevor es wieder geschieht!

Winnenden: Das Drama hat keine Dramatik

Es gibt ein Handy-Video, auf dem zu sehen ist, wie der Amokläufer von Winnenden wenige Sekunden vor seinem Tod unschlüssig auf dem Parkplatz hin- und hergeht. Er muss wissen, dass er beobachtet wird. Trotzdem sucht er keine Deckung, hat offenbar keine Eile. Er steht da wie auf einem Präsentierteller. Wenn er niemanden sieht, auf den er schießen kann, dann scheint er ziellos zu sein. Er lädt seine Waffe nach. Es ist, als tue er es nur, weil ihm gerade nichts Besseres einfällt.

Es sind Stimmen zu hören. Einer sagt: Du wirst sehen, der erschießt sich selbst. Wenig später ist ein Schuss zu hören, und der Amokläufer geht zu Boden. Auch das geht merkwürdig leise vonstatten, kein Schrei, keine hektischen Bewegungen. Es wirkt, als hätte ihn plötzlich die Kraft in den Beinen verlassen.

Man sieht nur noch einen verschwommenen Fleck. Wahrscheinlich ist das Video an dieser Stelle geschnitten. Wenig später hört man einen sagen, der Amokläufer habe sich selbst erschossen, wahrscheinlich der Besitzer des Handys.

Auf diesem Video brüllt niemand. Niemand hat Angst in der Stimme. Keiner rennt, keiner flüchtet, wirft sich in Deckung. Niemand ist wütend. Niemand brüllt Macht ihn fertig! , oder etwas Ähnliches.

Ganz anders ist das, als in all den Ballerspielen, die angeblich den Anreiz für Amoktäter bieten. Die Wut, der Blutrausch, nichts davon ist zu sehen. Die Bilder, letztlich sind sie völlig wertlos. Sie erzählen nichts von dem, was passiert ist, nur, wie es ausgesehen hat.

Die Menschen sterben leise, hat es den Anschein. Sie tun das auch dann, wenn sie von einer Kugel getroffen werden. Ganz leise schleicht sich das Grauen in die Kleinstadt Winnenden. Hier bin ich geboren und aufgewachsen. Hier ist alles immer ganz normal, ganz kleinstädtisch schwäbisch gewesen. Das wird auch so bleiben, glaube ich. Aber die, die hier leben, wissen jetzt: Da gibt es etwas, das sie nicht sehen können, auch auf keinem Video. Aber es ist immer da: Das Böse!

Freitag, 20. Februar 2009

Die bösen Banker

In den letzten Monaten sind die Banker allesamt zu bösen Buben erklärt worden. Angeblich haben sie sich versündigt, allen voran die Investmentbanker. Sie haben sich von ihrer Gier leiten lassen, so hört man, und dabei das ganze Bankensystem in den Abgrund gerissen.

Ist das wirklich so einfach? Sind tatsächlich ein paar Wenige dafür verantwortlich, dass eine ganze Welt in die Rezession versinkt? Nein, so einfach ist es nicht!

Wir wissen zum Beispiel, dass in den USA viele Kredite vergeben worden sind, die nie hätten vergeben werden sollen. Dort hat sich irgendwann jeder ein Haus bauen können, auch wenn er nicht im Mindesten über die finanziellen Mittel dazu verfügte. Mit Krediten bekam man das immer irgendwie hin.

Jetzt tun wir doch mal nicht so, als ob uns das alle kalt erwischt hätte. Wir halten uns alle für mündige Bürger, und die drüben auf der anderen Seite des Atlantik tun das auch. Die Gier hat auch jene verleitet, die einfach nur das Häuschen haben wollten, das sie sich nicht leisten konnten.

Hier bei uns wird genau dieselbe Schiene gefahren. Das nennt sich dann Easy Credit oder ähnlich. Ich habe in Neukölln schon Bankenfilialen gesehen, die offensichtlich alleine dem Zwecke dienen, Leuten Kredite aufzuschwatzen. Deren Werbeplakate sind offensichtlich auf zahlungsschwache Kundschaft ausgerichtet. Das gibt es auch jetzt noch, mitten in der Finanzkrise.

Wie viele von uns fahren Autos, die sie sich nicht leisten könnten? Wie viele (riesige und teure) Flachbildschirme müssen erst noch abgezahlt werden? Wie viele Häuschen hier in Deutschland werden unter den Hammer kommen, wenn die Leute, die drin wohnen, ihre sicher geglaubten Jobs verlieren? Sehr viele arbeiten bei uns in der Automobilbranche, oder im Zuliefererbereich. Wenn das dann plötzlich nicht mehr so funktioniert, mit den auf Kredit gekauften Autos, dann verlieren plötzlich all die Leute ihren Job, die in auf Kredit gekauften Häuschen wohnen. So schließt sich der Kreis. Alles hängt zusammen, alles kann einstürzen wie ein Kartenhaus.

Wir können nicht sagen, wir hätten davon lange nichts gewusst. Wir können nicht behaupten, es sei uns alles nur aufgeschwatzt worden. Natürlich, manch einem ist vielleicht von seiner Bank eine Investition aufgeschwatzt worden, die nicht ganz so risikolos war, wie behauptet. Aber hätte uns nicht schon viel früher stutzig machen müssen, dass Geld angeblich arbeiten kann? Haben wir nicht auch gerne geglaubt, was uns weiß gemacht wurde, weil wir gierig waren, weil wir alle alle gierig sind, und weil das menschlich ist?

Jetzt nach Sündenböcken zu suchen, dort wo die Gier am offensichtlichsten zu Tage tritt, das ist auch menschlich, aber es ist falsch. Wir können uns nicht aus der Verantwortung zählen. Wir sind es, die diese Welt gestalten, wir alle, und sei es nur durch Gewährenlassen, durch Wegschauen, durch Nichtstun.

In den Banken ist eine Kultur entstanden, die zu Verantwortungslosigkeit geführt hat. Das stimmt. Aber dies ist keine Kultur gewesen, die von wenigen und von oben herab befohlen wurde ist. Die Kultur des Geldes haben wir alle geschaffen, und wir haben alle an sie geglaubt, ohne viel nachzufragen. Daran hat sich auch heute nicht viel geändert.

Jetzt, wo das Geld bald etwas knapper wird, ist es um so schwerer, nicht an das Geld zu denken. Jetzt überlegt sich natürlich jeder, wie er selbst möglichst ungeschoren aus der Sache wieder herauskommt. So sind wir Menschen. Vielleicht wäre es aber an der Zeit, wieder nach eine paar neuen Idealen zu suchen. Demokratie, soziale Marktwirtschaft, vielleicht ist das nicht alles. Vielleicht ist es Zeit für Neues, zum Beispiel für eine Wirtschaft, in der Moral nicht gesetzlich vorgeschrieben wird, sondern gelebt wird, durch Überzeugung.

Samstag, 7. Februar 2009

Richard Yates: Revolutionary Road (Zeiten des Aufruhrs)

Richard Yates: Revolutionary RoadDie Verfilmung des Romans Revolutionary Road läuft gerade in den Kinos mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio in den Hauptrollen, dem Traumpaar aus Titanic. Regie führt Winslets Ehemann Sam Mendes. Wenn man der Presse glauben darf, hat sie ihren Mann dazu bewegt, diesen Film zu machen, weil ihr das Buch so am Herzen liegt.

Der Roman aus dem Jahr 1961 war der Erstling des hochgelobten aber vergleichsweise erfolglosen amerikanischen Autors Richard Yates.

Es geht um die Wheelers, ein Ehepaar, das an der eigenen Eitelkeiten zu Grunde geht, indem es sich einen erbarmungslosen Ehekrieg führt. Erbarmungslos geht auch der Autor mit seinen Romanfiguren um, indem er die innere Leere dieser Menschen schonungslose offenbart. Dieses Ehepaar sucht nach einem diffusen Glück, von dem es nicht weiß wie es aussehen könnte. Nur eines scheint ihnen sicher, nämlich ihr Familienleben mit zwei Kindern im eigenen Häuschen in einer New Yorker Vorstadt nicht das ist, worauf es ihnen im Leben wirklich ankommt.

Frank und April Wheeler sind gefangen in den Rollen, die sie sich gegenseitig zugedacht haben. In ihrem unausgegorenen Plan, nach Europa auszuwandern, versinnbildlicht sich ihre Unfähigkeit, dem Lebensgefühl ihrer Epoche etwas Eigenes, Echtes entgegenzusetzen. Der Plan muss scheitern, und damit auch die Ehe. Beiden fehlt das, was sie vom jeweils anderen so sehr erhoffen, der Zugang zu eigenen, echten Gefühlen, fernab von Pose und Heuchelei, und das gesunde Selbstbewusstsein.

Was bleibt, wenn zwei Menschen merken, dass ihnen ihr Leben entgleitet und nichts mehr da ist, womit sie sich wirklich identifizieren können, das demonstriert dieser Roman: Hass und Selbstzerstörung.

Die Klasse des Romans steht außer Frage. Das Ehedrama wird auf eindringliche, differenzierte Weise geschildert. Dabei ist die Geschichte nicht mit den amerikanischen Fünfzigern verhaftet. Das psychologische Drama der Wheelers könnte sich vor einem anderen Hintergrund heute genau so ereignen. Im Grunde geht es darum, wie eine seelenlose Kindheit im Erwachsenenleben eins Ehepaars fortwirkt. Beide haben in ihrer Erziehung offenbar nichts mitbekommen woran sie sich hätten orientieren können. April hütet wie einen Schatz die wenigen Erinnerungen an ihre Eltern, die sie früh weggegeben haben. Frank hat in seinem Vater nie einen Menschen sehen können, zu dem er hätte aufschauen, an dem er sich hätte ausrichten können. Was beide früher nicht bekommen haben, können sie sich gegenseitig in der Ehe auch nicht geben.

Gerade die Qualitäten des Romans machen die Lektüre zu einem bedrückenden, um nicht zu sagen frustrierenden Erlebnis. Hier gibt es keinen Hoffnungsschimmer, schon gar keine Ausweg. Manchmal scheint es, als habe der Autor eine grausame Freude daran gefunden, den amerikanischen Durchschnittsbürger bloßzustellen. Aber dabei überschreitet er nie die Grenze zur Satire, sondern bleibt stets realistisch. Und damit wird es für den Leser unmöglich, eine wohltuende Distanz zwischen sich und dem Erzählten aufzubauen. Das Lachen bleibt ihm im Halse stecken.

Vielleicht ist diese Schonungslosigkeit auch einer der Gründe, warum dem Autor der ganz große Durchbruch zu Lebzeiten verwehrt geblieben ist. Der Roman ist zu dicht dran am echten Leben, als dass er als Unterhaltungslektüre durchgehen könnte. Er erfüllt seinen Zweck eher dann, wenn man sich mit ihm auseinandersetzt, ihn als Spiegel fürs eigene Dasein benutzt, oder einfach, wenn man ihn als Anregung zum Nachdenken sieht.

Natürlich wäre aus einem solchen Stoff ein Film mit Intensität und Atmosphäre machbar gewesen. Sam Mendes ist das nicht gelungen. Seine Hauptdarsteller spielen gut, ja, und sie scheinen die Idealbesetzungen zu sein. Genau so muss man sich Frank und April Wheeler wohl vorstellen. Aber dem Film fehlt jeder Schwung bei der Umsetzung vom Buch auf die Leinwand. Die Romanhandlung ist fast eins zu eins umgesetzt, aber sie bekommt auf der Leinwand kein Leben eingehaucht. In den ersten zwei Dritteln ist der Film fast langweilig und gewinnt dann nur deshalb an Fahrt, weil das Ehedrama unweigerlich seinem Finale entgegensteuert.

Für mich ist das ein Film, der viel zu sehr Papier geblieben ist. Die Macht der Bilder kann sich nicht entfalten. Die Fünfzigerjahre-Kulisse wirkt wie eine Bühnendekoration, einfallslos in Szene gesetzt. Einen solchen Film können auch die Hauptdarsteller leider nicht retten.

Sonntag, 1. Februar 2009

Tennis: Nadal schlägt Federer in Melbourne

Heute hat Nadal zum wiederholten Male Roger Federer im Finale eines Grand-Slam-Turniers geschlagen. Letztes Jahr in Paris und in Wimbledon ist es dasselbe gewesen. Damit ist die zur Zeit gültige Rangordnung im Profitennis eindrücklich bestätigt: Nadal Eins, Federer Zwei.

Der Mann, der als der begabteste und erfolgreichste Spieler aller Zeiten gilt, Roger Federer, muss sich bescheiden. Im direkten Vergleich gegen seinen direkten Konkurrenten Nadal setzt sich das fort, was sich im letzten Jahr schon abzeichnete: Nadal hat Federer überholt. Vorerst wenigstens!

Wer regelmäßig Tennismatches zwischen Spitzenspielern verfolgt, der weiß, dass über Sieg oder Niederlage oft nicht die spielerischen Fähigkeiten der Gegner entscheiden, denn die liegen bei den Besten dicht beieinander. Kleinigkeiten entscheiden, Nervenstärke, Tagesform, Fitness, manchmal sogar der Zufall. Wenn trotzdem auf lange Sicht und über viele Turniere hinweg ein Spieler sich als der Beste behaupten kann, dann muss ihn etwas von denen anderen unterscheiden, das über die reine Fähigkeit, Tennisbälle zielgenau knapp vor die Linien zu platzieren, hinausgeht.

Das kann eine besondere Nervenstärke sein, Erfahrung, Talent, körperliche Fitness, ein harmonisches privates Umfeld - oder schiere Kraft.

Sieht man Nadal zu, möchte man an schiere Kraft glauben. Und an eine unerschöpfliche körperliche Ausdauer. Dieser Spanier erläuft auch nach vier Stunden Tennis noch die unglaublichsten Bälle, scheinbar ohne jemals müde zu werden. Er erläuft sie nicht nur, sondern ist sogar so rechtzeitig zur Stelle, dass er sie mit seinen Vorhandhämmern auf die andere Seite zurückzimmern kann. Unwiderstehlich, unweigerlich, ein Kraftpaket auf zwei Beinen.

Mir scheint, wenn ich die letzten Begegnungen zwischen Nadal und Federer Revue passieren lasse, der Unterschied zwischen beiden liegt weniger in der Technik, sondern eher in der Kraft. Federer wirkte auf mich im letzten Satz müde und resigniert. Denselben Eindruck hatte ich letztes Jahr in Paris. Wenn Federer müde wird, dann hat Nadal immer noch eine Schippe draufzulegen. Vermutlich ist er den Bruchteil einer Sekunde schneller am Ball als sein Konkurrent, und hat dadurch die entscheidende Menge mehr Zeit, um sicher zurückzuspielen, und hat die größeren Muskeln, um den Ball noch ein bißchen mehr zu beschleunigen.

Nein, ich halte Nadal nicht für einen Spieler, der Haudrauf-Tennis spielt. Seine Technik, seine spielerischen Fähigkeiten stehen außer Zweifel, genau wie die von Federer. Aber auf dem Niveau, auf dem sich diese beiden begegnen, ist eben die spielerische Komponente nicht mehr die Einzige, die ausschlaggebend ist. Seit Nadal Tennis auf demselben Niveau wie Federer spielt, ist er an ihm vorbeigezogen, weil er stärker ist, physisch stärker.

Im Tennis, dieser von Koordination, Geschick, Taktik und Technik geprägte Sportart, sind auf dem obersten Niveau, auf dem Niveau Nadals und Federers, alle diese Komponenten ausgereizt, und es geben dann eben doch Kraft und Ausdauer den Ausschlag. Auch da ist der Unterschied zwischen den beiden bestimmt nicht riesig, aber Nadal ist wohl ein wenig stärker, jedenfalls heute ist er es gewesen, und auch bei vielen wichtigen Gelegenheiten im letzten Jahr.

Dann gibt es die Vielen, die fragen, wie kann das sein? Wie kann einer rennen und rennen, ohne müde zu werden? Ist das noch normal? Diese Frage stellen wir hier nicht! Was diese beiden, Federer und Nadal, auf dem Tennisplatz treiben, ist nicht normal. Es ist großartiges, unvergleichliches Tennis. Es ist vielleicht noch ein bißchen mehr ...

Samstag, 31. Januar 2009

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser

Karl Philipp Moritz: Anton ReiserDer Anton Reiser gilt als der erste psychologische Roman. Das Buch ist sehr autobiographisch und deshalb so etwas wie eine Selbstanalyse des Autors. Als solche ist sie äußerst beachtlich, bis heute hochaktuell und äußerst lesenswert. Auch den modernen Leser macht das Schicksal Anton Reisers unmittelbar betroffen. Die Psyche des Protagonisten, seine innere Zerrissenheit wird so differenziert und eindringlich geschildert, dass wir darin viele Muster entdecken können, die auch heute noch in der Entwicklungspsychologie wichtig sind.

Es geht um einen jungen Menschen, Anton Reiser, der ohne Liebe und ohne Wertschätzung aufwachsen muss. Seine Eltern sind Quietisten, eine heutzutage unbedeutende Frömmigkeitsrichtung aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Sie ist am ehesten noch mit dem Pietismus vergleichbar. Im Quietismus sind Selbstkritik und Selbstverzicht die höchsten Werte. Dem Kind wird dieser radikale Glaube aufgezwängt, es wird ihm durch ständige Wiederholung die Doktrin eingepflanzt, dass das eigene Selbst keinen Wert hat.

Dennoch lässt Anton schon früh große Begabungen erkennen. Er interessiert sich für Philosophie und Literatur, lernt schnell und gut die alten Sprachen, dichtet, und hätte offenbar eine vielversprechende Zukunft vor sich, wenn er gefördert werden würde. Erst durch die offensichtlichen Begabungen Antons wird sein Schicksal tragisch. Der Roman protokolliert nun genau, wie der Mangel an Eigenliebe verhindert, dass Anton seiner Bestimmung folgen und zu sich selbst finden kann. Es wird zwar zugelassen, dass er studiert, allerdings nur, weil sein Talent von Lehrern erkannt wird. Von seinen Eltern erfährt er keine Unterstützung, auch keine finanzielle. Das ist zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Normal ist vielmehr, dass Studenten bettelarm sind und als Kostgänger darauf angewiesen sind, dass sie bei mehr oder minder menschenfreundlichen Gönnern endgeltlos essen oder schlafen dürfen.

Zunächst scheint es, als sei Anton ein Opfer der Zeitumstände, der Roman eine soziale Anklageschrift à la Oliver Twist. Dann wird klar, dass Anton nicht nur gegen die sozialen Probleme seiner Zeit zu kämpfen hat, sondern auch gegen sich selbst. Zu groß ist die Sehnsucht nach Anerkennung, die ihm in der Kindheit verwehrt worden ist. Sie sorgt dafür, dass er immer wieder vom Weg abkommt. Wenn er Zuspruch erfährt, wenn er Gönner hat, macht ihn das euphorisch, aber mit Ablehnung kann er nicht umgehen.

Es gelingt ihm nicht, sein Studium durchzuziehen, wie man heute sagen würde. Die unstillbare Sucht nach Anerkennung kondensiert sich in dem Wunsch, Schauspieler zu werden. Zum Schauspieler ist er nicht geboren, es fehlen ihm sowohl das Äußere als auch das Talent. Dennoch glaubt er von einem bestimmten Punkt an, nur als Schauspieler glücklich sein zu können. Er bricht sein Studium ab, begibt sich mehrmals ohne ausreichend Geld auf planlose Wanderschaften, die ihn physisch und psychisch schwer belasten. Er reist einer Schauspielertruppe nach, um sich ihr anzuschließen, nimmt dafür vielen Entbehrungen in Kauf, nur um am Ende erfahren zu müssen, dass sich die Truppe aufgelöst hat. Das aber ist fast ein Glück, denn in einer mittelmäßigen Theatertruppe wäre es um sein Talent endgültig geschehen gewesen.

Der Roman bleibt unvollendet und wirkt doch rund, denn am Ende ist klar, was Reiser tun müsste und warum er es nicht kann. Der Wunsch, Schauspieler zu werden ist Ausdruck einer falschen Identität, die sich in ihm herangebildet hat in den Jahren emotionaler Vernachlässigung. Mit der Schauspielerei hält er an dem einen Wunsch fest, der ihm in seiner Jugend hatte ausgetrieben werden sollen, dem Wunsch, als ein Mensch mit eigenen Gefühlen wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden. Tragisch ist diese Lebensgeschichte dadurch, dass sich aus einer berechtigten Sehnsucht heraus ein Irrtum entwickelt, ein falsches Bild von sich selbst und der Realität. All seine Klugheit und seine Fähigkeit zur Selbstanalyse versetzen ihn nicht in die Lage, seinen Irrtum zu durchschauen.

Die Existenz dieses Romans beweist, dass der Autor Karl Philipp Moritz im Gegensatz zu seiner Romanfigur irgendwann verstanden hat. Erst dadurch war er in der Lage, diesen Roman zu schreiben, den ersten, der die Bedeutung der menschlichen Psyche bei der Sozialisierung des Individuums thematisiert.

Staatsbankrott

Die Zeitungen haben ein neues, naheliegendes Thema entdeckt, den Staatsbankrott. In der momentanen Situation liegt es nahe, die Frage zu stellen: Wie verschuldet sich der Staat? Wie lange kann der Staat Schulden machen, bevor er selbst bankrott geht?

Der Spiegel von dieser Woche versucht, mit seiner Titelstory darauf eine Antwort zu geben: Der Staat macht Schulden, indem er verzinsliche Wertpapiere an seine eigenen Bürger und an andere Länder verkauft. Ein Beispiel sind die Bundesschatzbriefe: In die kann jeder investieren und hat dabei eine Geldanlage, die angeblich sehr sicher ist.

Die Schuldenlast des Staates steigt ständig, und damit auch die Zinsen, die zu tilgen sind. Die Zinstilgung ist offenbar der zweitgrößte Ausgabenposten in Deutschland. Wenn der Staat seine Zinsen nicht mehr zurück zahlen kann, dann geht er pleite. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, mit welchen Unruhen und politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen so etwas verbunden wäre.

Wenn man dem Spiegel glauben darf, zahlt der Staat seine Schulden so gut wie nie zurück. Wenn sie fällig werden, dann erneuert er sie einfach. Deshalb wächst die Zinsbelastung meistens, bleibt im besten Fall gleich. Mich erinnert das verdächtig an das vielzitierte Schneeballsystem. Spätestens dann, wenn mit neuen Schulden die alten Zinsen beglichen werden, dann würde es sich ohne Zweifel um ein Schneeballsystem handeln. Schneeballsysteme sind illegal, weil sie nicht stabil funktionieren können und eine Form von Betrug darstellen. Wenn Einzelpersonen so etwas tun, dann werden sie bestraft, kommen vielleicht sogar ins Gefängnis. Ist es möglich, dass der Staat etwas tut, was dem Wesen nach verbrecherisch ist?

Täuscht der Staat seine Bürger? Basiert sein Finanzgebahren auf einem Prinzip, von dem man mit etwas gesundem Menschenverstand sofort erkennen kann, dass es auf lange Sicht nicht funktionieren kann? Wenn ja, wie lange dauert es, bis ein Wirtschaftssystem kollabiert, welches momentan alle Staaten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu stabilisieren versuchen?